Augen auf bei der Unternehmenskultur

Lars Vollmer

Ringe – ja, aber maximal zwei.

Ohrringe – na gut, aber nur einen, ganz dezent im Ohrläppchen.

Halsketten – jetzt hört’s aber auf. Nein danke!

Ja, die deutsche Bundeswehr sorgt sich wirklich im Detail um das Erscheinungsbild ihrer Soldatinnen und Soldaten. In vielen Unternehmen ist mittlerweile der gleiche Wahnsinn eingefallen – weit über Kleiderverordnungen von Berufs wegen hinaus.

Es geht um mehr. Es geht um etwas viel Größeres, etwas Wichtigeres. Meine Damen und Herren, es geht in diesem Lande um die Unternehmenskultur!

Kulturlos und unverschämt!

Unternehmenskultur in allen ihren Facetten – Arbeitskultur, Streitkultur, Fehlerkultur … – »Kultur« ist das Wort, das mir in Unternehmen und auf Kongressen immer wieder von allen Seiten um die Ohren fliegt. Es hat der »Komplexität« als Organisationsfetisch inzwischen fast den Rang abgelaufen. Kultur sei von elementarer Bedeutung für ein Unternehmen, seine Kultur zu finden, zu zeigen, zu pflegen, zu bewahren. Und die Führungskräfte haben die Kultur vorzuleben. So der Konsens.

Nur dass diese hochgelobte Unternehmenskultur zu skurrilen Auswüchsen führen kann, lassen die Beteiligten außer Acht. Erst kürzlich wurde ich Zeuge einer dieser Ausgeburten. In der Belegschaft eines renommierten Pharma- und Laborzulieferers war Streit ausgebrochen. Man erzürnte sich ob eines essenziell wichtigen Kulturgutes: des Arbeitskittels.

Was Sie jetzt vielleicht zum Schmunzeln bringt, finde ich ziemlich bedrückend (ja, auch ein bisschen amüsant). Das Dilemma fing damit an, dass zwei Bereiche nach Jahren der räumlichen Trennung nun ins selbe Gebäude gezogen sind. Auf der einen Seite die Herrschaften, die mit elektronischen Bauteilen arbeiten – sie tragen Kittel, um die Bauteile zu schützen, und zwar vor elektrostatischer Aufladung. Und auf der anderen Seite stehen die Mitarbeiter aus dem eher biotechnischen Bereich, deren Kittel vor allem sie selbst schützen sollen. Und zwar vor toxischen Substanzen und Ähnlichem. Alles sehr praktisch soweit.

Bis … ja, bis Mitarbeiter beider Bereiche sich im neuen Gebäude zum ersten Mal in der Kantine begegneten. Die Meister der Bauteile ließen ihre Kittel nämlich zum Essen an – sehr zum Entsetzen der Biotechniker! Die kontaminierten Arbeitskittel in der Kantine zu tragen, verstieß komplett gegen ihr Verständnis jeglicher Unternehmenskultur und kam einer Unverschämtheit gleich!

Zwei Kulturen prallten aufeinander.

Eine Unternehmenskultur für alle

So wie jedes Wetter seine Berechtigung hat, so hatten auch diese beiden Kulturen ihre Berechtigung. Der Streit war vorprogrammiert. Er gipfelte in einer Beschwerde der Biotechniker beim Konzernbetriebsrat. Dieser erwägt nun tatsächlich, eine Kittelverordnung zu entwerfen. Hauptsache, die so mühsam errichtete Kultur wird durch interne Streitereien nicht destruiert.

Doch woher kommt diese Angst, dass ein Zwist in der Belegschaft sogleich die Kultur ins Wanken bringt? Ich kann es Ihnen sagen. Dieser Bangnis liegt ein gängiger Irrglaube zugrunde: »Wir sind eine Firma. Also brauchen wir auch eine gemeinsame Kultur!«

Da ist er wieder, der alte Vereinheitlichungsreflex. Fast so zuverlässig wie das Zucken Ihres Knies, wenn der Arzt mit seinem Hämmerchen draufklopft. Und zugleich fühle ich mich an die drei Musketiere erinnert: Eine Unternehmenskultur für alle, alle für eine Unternehmenskultur!

Ich sehe hier mal von der Frage ab, ob sich ein Unternehmen für eine Kultur überhaupt entscheiden kann – ich spoiler mal die Antwort: Nein! Ich frage hier lieber: Warum wollen die Verantwortlichen in den Unternehmen partout eine gemeinsame Kultur schaffen? Und im Fall des Hightech-Zulieferers zwei völlig verschiedene Bereiche vereinheitlichen, die eher historisch zufällig unter einer juristischen Decke stecken? Ist so ein Streit wirklich so kontraproduktiv? Und ist das überhaupt die richtige Frage?

Vom Problem der unsteuerbaren Kultur

Schließlich gehört die Organisationskultur zu den Dingen, die sich permanent entwickeln. Hinter dem Rücken der Akteure, quasi. Einen Moment nicht hingeschaut und plötzlich ist alles anders. Denn Kultur können Sie nicht gezielt »machen« – sie entsteht. Nicht von selbst, aber ganz automatisch, also ohne ordnende, steuernde Hand.

Geprägt durch die Zusammenarbeit der Mitarbeiter, das Aufgabengebiet, die Erfolge und Misserfolge und die zig anderen Strukturparameter entwickeln sich in verschiedenen Unternehmensbereichen jeweils eigene Unternehmenskulturen. Wie auch sonst? Die einen fangen das überraschende Sondergeschäft auf, die anderen bearbeiten die Standards. Eine Gruppe kümmert sich um die Entwicklung, die andere um die Kundenprojekte. Hier gibt es die Personaler, da die Controller. Für mich steht außer Frage, dass die Unternehmenskultur hier keine einheitliche sein kann!

Klar könnten Sie jetzt mit einer Flut aus Verordnungen und Vorschriften reagieren: Kleidungsvorgaben, Verhaltensregeln, vereinheitlichte Arbeitszeitmodelle …

Oder Sie akzeptieren hier und jetzt, dass Ihre Kultur zu den Phänomenen zählt, die Sie nicht steuern können.

Entschieden, zu entscheiden

Das wusste schon Niklas Luhmann, der die Unternehmenskultur zu den sogenannten »unentscheidbaren Entscheidungsprämissen« im Unternehmensalltag zählen würde. Dieser Begriff ist leider etwas sperrig und dennoch äußerst präzise. Ich versuchs mal in vollmerschen Worten kurz zusammenzufassen: Es gibt Entscheidungsprämissen in drei Ausführungen: die entscheidbaren, die nicht entschiedenen sowie die unentscheidbaren. Entscheiden kann sich eine Organisation beispielsweise für eine Kleidervorschrift. Oder für ein Entgeltsystem. Oder für das Mobiliar des Pförtnerhäuschens. Prinzipiell entscheidbar, aber nicht entschieden sind all die vielen eingeschwungenen informellen Praktiken beispielsweise im Umgang mit Arbeitszeiten („wir machen hier in der Abteilung alle Montag bis Donnerstag etwas länger und gehen dann am Freitag um 13.00 Uhr, das stört niemanden.“) oder Akkordsystem („hau mal nicht so rein, mehr als 126% der Vorgabezeiten liefern wir hier in der Schicht nicht ab“).

Entscheidend ist in diesem Fall aber das Unentscheidbare: alles das, was sich unter Kultur subsumieren lässt, in allen denkbaren Ausprägungen, insbesondere Haltungen, Denkmuster, Einstellungen, Weltbilder oder Werte. Denn hier liegt die Krux: Sie können Kultur beobachten, wenn sie geübt darin sind. Sie können sie – oder die respektiven Kulturen jeder Abteilung und jedes Bereiches – sogar sichtbar machen. Aber in dem Moment, in dem Sie Ihre Organisationskultur rational beherrschen, programmieren oder technokratisch verwalten wollen, kämpfen Sie gegen Windmühlen an: Wer seine Zeit in liebevoll erarbeitete Leitbilder steckt, gibt seinen Mitarbeitern einen weiteren Aspekt, über den sie sich lustig machen können. Gemeinsame Kultur? Wohl eher das Gegenteil.

Und die gemeinsamen Werte?

Wenn ich Führungskräften in diesem von mir herbeigeführten Stadium des Entsetzens nun rate, Ihre Organisationskultur stattdessen lediglich zu beobachten – weil eine Organisationskultur nun einmal erwächst und nicht »gemacht« wird –, kommt geradewegs ihr Gegenargument um die Ecke: »Aber wir brauchen doch gemeinsame Werte!«

Sicher, Werte sind wichtig. Vor allem wenn in schwierigen Situationen die Orientierung durch Regeln, Prozesse oder Anweisungen fehlt und Mitarbeiter auf ihr Bauchgefühl zurückgeworfen sind. In dem Fall muss jeder im Team wissen: Wie ticken wir als Team und Unternehmen denn grob?

Überzeugen kann mich das Argument dennoch nicht. Schlussendlich sind Werte genauso abhängig von der jeweiligen Aufgabe oder Herausforderung, die aktuell im Raum steht. Sie können Werte ebenso wenig disponieren oder rationalisieren wie eine bestimmte Unternehmenskultur.

Augen auf!

Daher möchte ich Unternehmern und Führungskräften in diesen Zeiten des rasanten Wandels, in denen alle Welt täglich mit den Herausforderungen von »Change« gebeutelt wird, einen kleinen, aber wesentlichen Spagat nahelegen: Unentscheidbares beobachten und Entscheidbares gestalten. Beides, gleichzeitig, versteht sich.

Denn unentscheidbare Komponenten wie Ihre Unternehmenskultur steuern zu wollen, ist nichts als ein konstantes und ineffektives Intervenieren. Ihr Agieren führt vielleicht dazu, dass sich die Kultur in eine andere Richtung bewegt, aber zum Stillstand auf Ihrem Wunschniveau kommt sie dennoch nicht. Die Kultur ist ja vielmehr permanent in Bewegung.

Change und jedwede Unternehmenskultur werden dann intelligent und erwachsen, wenn sie nicht länger als Projekt verstanden werden. Sondern wenn die Verantwortlichen in Unternehmen verstehen, dass nur ein immerwährendes Beobachten der Schlüssel zu einer gesunden, wie auch immer gearteten Kultur ist.


Anmerkung: dieser Artikel erschien hier erstmals im März 2017. Im Februar 2020 wurde er überarbeitet und neu veröffentlicht.

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  • Jochen Heins
    10. März 2017 at 10:16

    Hallo Lars,

    der Kittel ist im Luhmannschen Sinne ja auch eine Entscheidungsprämisse: Gehören wir dazu, oder nicht? Er wurde also als Gruppengrenze interpretiert – und insofern kann ich die Reaktion „Kittelverordnung“ nur zu gut verstehen. Es geht tatsächlich ums Ganze: Sind wir wir? Man kann also definitiv eine Existenzkrise ausmachen … 🙂 Aber die Antwort könnte natürlich auch sein, einen Schritt zurückzutreten und darüber zu reflektieren, was „wir“ eigentlich ausmacht und dann da heraus zu reagieren … Die Grundfunktionen des Lebens sind immer noch einatmen-ausatmen-einatmen-ausatmen-… und das kann man üben.

    Es gehört sicher auch zur Kultur, im Reflex zu reagieren. Schnell eine Kittelverordnung. Kultur als Unternehmensgedächtnis: Bloß nicht, dass man uns Versagen oder Handlungsunfähigkeit vorwirft – es wird also nicht einfach. Schließlich entsteht Kultur ja erst im Diskurs.

    Deswegen: Dein Hinweis „zu beobachten“ – absolut hilfreich! Wenn man ihn annehmen kann – die Kultur es also erlaubt. 😉

    Viele Grüße
    Jochen

  • Mario Rossetti
    10. März 2017 at 16:50

    Wie lange dauert es denn um eine Gewünschte Kultur in einem Unternehmen zu etablieren. SPEZIALISTEN SPRECHEN VON MINDESTENS 5 Harten Jahren eines Transformationsprozesses.
    ICh denke das es anders gehen müsste.
    Wenn mann z.b. in England die Rechtsfahrerkultur im Straßenverkehr einführen möchte, wie würde man da dann vorgehen? Vielleicht zu erst müssen die LKW’s rechts fahren und dann 4 Wochen später die Autos wieder 4 Wochen später die Zweiräder….
    Sie merken schon das da Chaos vorprogrammiert ist….Das würde nie funktionieren. UM eine gewünschte Kultur einzuführen, müssen eigentlich , wie am Beispiel der Straßenfahrkultur , nur banale Regeln aufgestellt werden. Die Kunst besteht darin diese banalen Regeln in einem zu erkennen und dann sofort innerhalb 24 Stunden einzuführen. SO kann man dann eine gewünschte Kultur einführen. Sicherlich holpert es dann hier und dort, aber Fahranfänger werden mit jeder Fahrt doch auch immer besser. ALSO finden wir die Engpässe in unseren Unternehmen und lösen wir sie mit banalen Rezepte.

    • Jörg Mülling
      14. März 2017 at 07:02

      Diese Antwort gefällt mir, da sie tatsächlich einen Weg aufzeigt, wie ein Veränderungsprozess schnell eingeleitet werden kann. Wir haben keine 5 Jahre Zeit dafür! Also: Verständliche, ehrliche Regeln aufstellen, diese Vorleben und der ganzen Sache einen tieferen Sinn geben. Denn auch das ist wichtig: Was ist der Beitrag des Unternehmens und jedes Einzelnen zur Sinnerfüllung (des Zieles).

  • Christopher Temt
    13. März 2017 at 18:08

    Nichts neues, siehe Karl E. Weik, 1979:
    Es gibt aber nicht nur die integrierende Kultur der Organisation, die differenzierten Subkulturen der Gruppe oder Teams, sondern auch die fragmentierenden Kulturen der Individuen.

  • Tabea
    25. März 2017 at 14:38

    Hallo Lars,

    danke für deinen Beitrag. Sehr sehr schön auf den Punkt gebracht, welche trivialen „Input-Output“-Denkweisen in Bezug auf die Veränderung von Organisationskultur oftmals noch vorherrschen. Luhmanns Begriff der unentscheidbaren Entscheidungsprämissen erscheint zwar -wie du schreibst – sperrig, aber mit seiner Differenz von Entscheidbar/Unentscheidbar kann präziser differenziert bzw. beobachtet werden, welche Aspekte unter ‚Organisationskultur‘ fallen und welche nicht.
    Und in dem von Luhmann definierten Bereich unentscheidbarer Entscheidungsprämissen können unterschiedliche Werte, Überzeugungen und Handlungen nebeneinander existieren, woraus sich mehrere und sogar widersprüchliche Kulturen entwickeln können. Seine Definition unterstellt keine Singularität und keine Konsistenz. Dirk Baecker spricht dabei von Kontingenzkulturen: „Sie sind weder notwendig noch unmöglich; sind also so, wie sie sind (waren, sein werden) oder sein können, auch anders möglich“ (Baecker 2012).

    Sonnige Grüße
    Tabea

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