Gehorsam ist nicht verantwortlich

Lars Vollmer

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Paternalismus. Es dringt aus allen Ritzen, ist allgegenwärtig und kommt oft heimlich und unbemerkt angeschlichen.

Paternalismus ist kein von irgendwelchen Mächten bewusst installiertes System, sondern eher ein geduldetes soziales Phänomen. Der Begriff bezeichnet eine Machtbeziehung, in der ein Mensch oder eine Gruppe die Vormundschaft für einen anderen Menschen oder Gruppe übernimmt. Also die Beteiligten handeln so, als ob der eine besser wüsste, was gut für den anderen ist.

Während in einer intakten Familie die Eltern-Kinder-Beziehung oder die Beziehung von erwachsenen Kindern zu ihren hochbetagten und pflegebedürftigen Eltern natürlicherweise meist paternalistisch ist, wird es problematisch, wenn der Paternalismus in Unternehmen oder in ganzen Gesellschaften um sich greift. Weil dann nämlich große Teile individueller Freiheit abhanden kommen. Weil es dann mündige Herrscher und unmündige Beherrschte gibt. Weil dann der Fortschritt versiegt.

Eigentlich hatten wir doch alle naiverweise gedacht, dass wir seit der Aufklärung, seit dem revolutionären Abschütteln der Fürsten und Monarchen und seit der Arbeiterbewegung keine unmündigen, sondern mündige Bürger mit unveräußerlichen Freiheitsrechten sind, die in Republiken leben, also in Gemeinwesen, in denen das Volk selbst die letzte Machtinstanz ist. Oder etwa nicht?

Aber vor dem Paternalismus-Gespenst ist kaum niemand gefeit. Auch nicht ich selbst. Ich erinnere mich da mit Schaudern an diese Situation vor Jahren, als ich Gründer und Chef eines kleinen aber feinen Beratungsunternehmens war – „Boutiqueberatung“ sagte man damals ganz vornehm. Wir hielten große Stücke auf unsere avantgardistische Unternehmenskultur, in der Selbstorganisation, Autonomie, Freiheit, Teilhabe, Transparenz, Augenhöhe und vieles mehr groß geschrieben wurden. Und dann kam da eines Tages diese Teamassistentin, die schon drei Jahre bei uns war, zu mir und fragte mich allen Ernstes, ob sie eine neue Computermaus bestellen dürfe …

Ich weiß, was du zu wollen hast!

Während ich bis zu diesem Moment individuelle Dummheit als Grund für eine solch absurde Frage nicht hätte ausschließen können, wurde mir damals schlagartig klar, dass bei uns grundsätzlich etwas falsch lief. Dass ich etwas falsch gemacht hatte. Ich! Nicht sie.

Ich hatte irgendwie dafür gesorgt, eine Arbeitsumgebung zu schaffen, in der sie glaubte, mich fragen zu müssen, anstatt diese minimale Entscheidung im Sinne des Unternehmens selbst zu treffen.

Mein Fehler fiel in die Kategorie Organisationsstruktur. Meine Mitarbeiterin hatte zu wenig Bezug zum Markt. Viel zu wenig. Sie erledigte ihre Aufgaben für mich oder die anderen Kollegen. Nicht für die Kunden. Wir hatten eine Struktur aufgebaut, in der sie nicht spürte, was der Markt will, welchen Teil der Wertschöpfung sie beiträgt und was deshalb mit dieser Maus zu geschehen hat. Logischerweise wusste sie mindestens genauso gut wie ich, dass es sinnvoll war, die Maus zu kaufen.

Abstrakt gesprochen: Die Marktoberfläche war zu klein. Sie dachte: Ich mache, was der Lars will, denn der Lars weiß am besten, was in dieser Situation das Richtige für mich ist. Und nicht: Was braucht der Kunde und was folgt daraus für mich?

Ich hatte still und heimlich in ihrem Job die Vormundschaft für sie übernommen. Wir hatten uns eine paternalistische Beziehung zueinander eingehandelt. So schnell kann das passieren.

Der Moment allerdings, in dem ich plötzlich in ganzer Tiefe verstanden hatte, was falsch gelaufen war, war für mich ein Durchbruch. Ein echter Heureka-Moment. Er hat mir die Augen geöffnet. In diesem Moment hatte ich wirklich verstanden, was ich vorher nur geglaubt oder gespürt hatte. Ihr könnt mir glauben: Das ist ein grandioses Gefühl!

Seit diesem Moment allerdings erkenne ich ähnliche Phänomene in sozialen Systemen wie Organisationen und Gesellschaften sofort. Vor allem sehe ich glasklar dieses allgemeine Missverständnis, ja, dieser Missbrauch des Wortes „Verantwortung“!

Das ist unverantwortlich!

Verantwortung übernehmen heißt nämlich nicht, sich an Regeln zu halten! Das gerade nicht! Ein Regel zu befolgen benötigt überhaupt keine Verantwortung. Verantwortung ist dann notwendig, wenn ein Mensch eine freie Entscheidung zwischen mindestens zwei gangbaren Alternativen trifft.

Darum: Die bürgerliche Verantwortung liegt nicht darin, Gesetze zu befolgen! Denn logischerweise kann es Verantwortung nur dort geben, wo es keine Regel gibt.

Verantwortung ist nämlich endlich – in etwa so wie eine Torte: Wenn der Chef für einen Vorgang verbindliche Regeln aufstellt, dann wird die die Verantwortung an die Regel delegiert. Und verbunden mit der formalen Macht des Chefs erzeugt das die klare Ansage: Gehorche, Mitarbeiter! Das heißt: Chef und Regel futtern die Torte. Sie futtern sie komplett auf. Und wenn der Chef dann den Mitarbeitern mit vollen Backen vorwirft, dass sie kein Stück von der Torte genommen haben, dann ist das einfach nur zynisch. „Meine Mitarbeiter übernehmen keine Verantwortung …“ – wirklich? Lächerlich! Natürlich würden sie das, wenn die Verantwortung noch auf dem Teller liegen würde und sie die Freiheit hätten, sie zu nehmen.

Genau das macht derzeit der Staat mit seinen Bürgern, mit uns. Mit welcher moralischen Begründung und mit welcher Motivation auch immer: Er stellt jedenfalls mit Gesetzen und Verordnungen zur Corona-Bekämpfung Unmengen von Regeln auf, bis weit ins Privatleben hinein. Der Staat reißt damit die Verantwortung für die Gesundheit der Bürger an sich. Er stopft sich die Torte in den Bauch. Wenn sich dann einzelne Bürger nicht an die Regeln halten, sich zum Beispiel auf öffentlichen Plätzen zu nahe kommen, im Park ohne Masken spazieren gehen oder sich zuhause zum Kochen treffen, dann wirft der Staat ihnen vor „unverantwortlich“ zu handeln. Aber dieser Vorwurf ist falsch!

Denn Leute, die Corona-Parties feiern oder eine Maske als Kehlkopf-Wärmer verwenden, sind nicht verantwortungslos, sondern ungehorsam. Wenn der Staat sich als Obrigkeit versteht und von seinen Untertanen Gehorsam verlangt, dann soll er es gefälligst auch so sagen. Und es nicht als eine Frage von Verantwortung tarnen! Der paternalistische Staat hat den Bürgern mit der weitgehenden Verregelung des Alltags die Verantwortung an vielen Stellen längst entrissen. Dann kann er ihnen dort auch keine Verantwortungslosigkeit vorwerfen.

Wäre beispielsweise das Tragen von Masken in Supermärkten kein Zwang, dann könnte sich ein verantwortungsvoller Mensch überlegen, ob es für ihn und seine Mitmenschen sinnvoll wäre, in einer besonderen Situation wie der einer Epidemie einer ansteckenden Atemwegserkrankung eine Maske zu tragen. Dazu würde er sich selbstverantwortlich informieren. Er würde sich die Folgen bewusst machen. Und er würde am Ende selbst die Entscheidung treffen und selbst die Verantwortung dafür übernehmen.

Aber jemand, der einfach nur eine Regel befolgt, weil ihm eine Strafe angedroht wird, kann gar kein verantwortungsvoller Bürger mehr sein! Ihm wird die Chance zur Verantwortungsübernahme von vorne herein genommen. Und Menschen, die sich daran gewöhnen, keine Verantwortung mehr übernehmen zu müssen, sondern nur noch stumpfe Gehorsamkeit zu leisten, verrohen. Die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme verkümmert dann mangels Gebrauch.

Das ist im Übrigen der gleiche Missbrauch wie bei der „Solidarität“: Durch die Verstaatlichung der sozialen Verantwortung wird aus Solidarität Zwang. Und selbstverständlich sinkt dann die individuelle Bereitschaft anderen Menschen zu helfen. Sie wird ja substituiert durch staatliche Regeln und finanzielle Umverteilung. Was bleibt, ist dann nur noch gehorsames Abliefern von Steuern und Abgaben, um das Soziale kümmert sich dann der Staat. Die Bürger gewöhnen sich daran und werden zwangsläufig immer unsolidarischer. Ihnen allerdings dann soziale Kälte vorzuwerfen, ist einfach nur zynisch.

In Wahrheit resultiert die Übernahme von Verantwortung aus der Abschaffung von Zwängen. Nicht aus dem Errichten von Zwängen. Und aus Verantwortungsübernahme resultiert gesellschaftlicher Fortschritt. Nicht aus Paternalismus. Das Freie entwickelt sich weiter. Das Regulierte erstarrt.

Weiterentwicklung, gesellschaftlicher und technologischer Fortschritt ist aber doch gerade jetzt genau das, was wir dringend brauchen.

Es geht voran

Aber ich rege mich gar nicht auf. Na gut, doch, ein bisschen schon. Aber ich bin auch gleichermaßen sehr zuversichtlich.

Auf der einen Seite sehe ich zwar das paternalistische Gespenst, ich sehe, wie der Staat und diverse „Mitstreiter“ aus der Gesellschaft in den letzten Monaten uns in einem Umfang vorhält, was gut für uns sein soll, wie ich das zuvor nicht für möglich gehalten hätte.

Auf der anderen Seite aber sehe ich, dass die Bereitschaft der Menschen, Verantwortung zu übernehmen, noch immer unfassbar groß ist. So treffe ich ständig verblüffend viele Menschen, die den inneren Drang haben, Führung und Organisation jenseits tradierter Glaubenssätzen und marodierendem Management-Werkzeugkasten wirklich zu verstehen. Die aus freien Stücken sogar ihr eigenes Geld in die Hand nehmen, um moderne Organisationsgestaltung zu lernen und tiefer zu durchschauen. Die ihre wertvolle Zeit aufwenden, um hinter die Plastikfassaden von Bullshitwörtern und Flutschbegriffen zu blicken.

Mich macht außerdem zuversichtlich, dass es überall in der Wirtschaft Akteure gibt, die sich der ideologischen Machteinflüsse entledigen und einfach etwas Gutes machen, etwas bauen, sich für etwas einsetzen, sich etwas einfallen lassen. Die etwas Neues in die Welt bringen.

Beispielsweise würde ich mit meinem Ingenieursblick behaupten, dass in der Antriebstechnik heute unglaublich viel passiert. Die technologische Entwicklung rast beeindruckend schnell voran. Einem meiner Freunde, der bei Ford arbeitet, wurde vor fünf Jahren gesagt, dass in zehn Jahren keiner mehr Verbrennungsmotoren kaufen will. Damals hatte er gelacht. Heute wird sein ganzes Werk auf die Produktion von Elektroantrieben umgebaut.

Über Elektromobilität könnt ihr natürlich unterschiedlicher Meinung sein, z.B. darüber, ob ein Dieselmotor unterm Strich nicht doch ökologisch gesehen sauberer ist. Aber dennoch ist die Elektro-Technologie großartig. Die Reichweiten, die mit den künftigen Batterien erreicht werden, werden dramatisch höher sein als alles, was Verbrenner jemals geschafft haben. Die Drehmomente sind brutal, die Autos sind leise, die Luftqualität in Innenstädten wird besser und vieles mehr. Ich sehe das als einen gigantischen Fortschritt und Wirtschaftstreiber (ohne vor den negativen Aspekten die Augen zu verschließen). Und wenn der Staat seinen Paternalismus zügelt und die Märkte nicht mit Verboten oder Subventionen zerstört, haben die Verbraucher eine echte Wahl zwischen verschiedenen Antriebstechnologien. Und können dann auch Verantwortung übernehmen.

Und das ist nur ein Beispiel: In vielen Wirtschaftsbereichen, nämlich überall dort, wo es unregulierte Spielräume gibt, wird heute viel mehr entwickelt und neu gedacht als vor 30 Jahren. Ständig höre ich von neuen Technologien und von neuen Geschäftsmodellen. Die Menschen sind einfach unglaublich intelligent und erfinderisch, wenn man sie lässt.

Heureka!

Darum muss ich jetzt einfach mal deutlich sagen, ja fordern: Lasst die Menschen mehr selbst entscheiden! Lasst die Bürger, lasst die Mitarbeiter, lasst alle Menschen in diesem Land mehr Verantwortung übernehmen!

Lasst sie selbst entscheiden, ob sie ihre Ladengeschäfte aufmachen wollen oder nicht! Jeder Geschäftstreibende hat ein vitales Interesse daran, seine Kunden vor Ansteckung zu schützen. Selbstverständlich kann er selbst am besten einschätzen, ob und wie er in seinem Geschäft seine Kunden schützen kann.

Lasst die Gastronomen selbst entscheiden, ob sie ihre Restaurants und Hotels aufmachen oder nicht! Stellt ihnen vielleicht Informationen und Tests zur Verfügung, aber lasst sie selber die Verantwortung übernehmen! Die Gastronomen im ganzen Land haben sich im letzten Jahr unfassbar viele Gedanken gemacht. Sie haben Lüftungsanlagen eingebaut und Hygienekonzepte entwickelt. Ich kenne ein Hotel, das im letzten Sommer einen siebenstelligen Betrag investiert hat, um in seinen Räumen intelligente Schleusen einzubauen und die Besucherwege zu steuern und so die Infektionsgefahr extrem zu reduzieren. Und schwupp, wurden auch sie dichtgemacht. Das ist geradezu wahnsinnig.

Lasst die Leute selbst entscheiden, ob sie nach Tschechien oder Italien reisen wollen! Oder ob sie Skifahren wollen oder nicht.

Lasst die Eltern selbst entscheiden, ob sie ihre Kinder zur Schule schicken wollen oder nicht! Oder wenn wir schon dabei sind: Lasst die Eltern selbst entscheiden, wie viele Jahre sie ihre Kinder in die Schule schicken. In den meisten europäischen Ländern besteht keine Schulpflicht. Auf welche Weise, in welcher Einrichtung, mit welchen Lehrern und zu welcher Zeit die Kinder unterrichtet werden, steht dort frei. Es herrscht kein Zwang und es funktioniert zum Teil deutlich besser als in Deutschland. In der Schweiz beispielsweise gibt es lediglich eine Bildungspflicht, die aber auch durch privaten Hausunterricht erfüllt werden kann.

Und wenn ich schon dabei bin:

Lasst die Leute endlich entscheiden, für welche Medien sie ihr Geld ausgeben möchten! Hört auf, sie zu zwingen, ARD, ZDF und Deutschlandfunk zu kaufen. Das ist doch offensichtlich unverantwortlich, weil extrem teuer und schädlich für den Zusammenhalt der Gesellschaft!

Lasst die Leute selbst entscheiden, ob und wieviel sie fürs Alter ansparen!

Lasst die Leute selbst entscheiden, wann sie zur Arbeit kommen und wann sie gehen und lasst sie die Konsequenzen daraus tragen!

Lasst die Vermieter selbst entscheiden, ob sie die Miete senken oder erhöhen wollen und in welcher Höhe!

Lasst die Unternehmen selbst entscheiden, ob sie ihre Kapitalreserven ausgeben und dann in Krisenzeiten sterben oder nicht!

Lasst sie vor allem selbst entscheiden, ob sie jemanden entlassen wollen oder nicht! Und wen.

Und an alle freiheitsliebenden Unternehmer: Fangt doch einfach mal damit an, eure Reisekostenrichtlinien aufzulösen. Lasst die Mitarbeiter selbst entscheiden, welchen Flieger, welchen Zug oder welches Hotel sie wählen. Die können das! Und billiger wird’s dann übrigens in Summe auch.

Ja, selbstverständlich, wird es auch mal den einen oder anderen Bürger geben, der fürs Alter nicht vorsorgt und sein Erspartes verprasst. In Einzelfällen wird Freiheit immer auch mal missbraucht und wo es Freiheit gibt, wird es immer auch vereinzelt Verantwortungslosigkeit geben. Die Leute erlernen derzeit Unmündigkeit. Sie werden aber auch wieder lernen mündig zu sein. Die Leute schaffen das schon!

Aus der Abschaffung von Zwängen resultiert Verantwortung. Wenn ich mehr Verantwortung will, dann muss ich Regeln abschaffen: In meiner Abteilung, in meinem Unternehmen, in meiner Gesellschaft.

Und damit ich jetzt nicht (absichtlich oder unabsichtlich) falsch verstanden werde: Ich will keineswegs eine regelfreie Gesellschaft! Ich will keine Gesetzlosigkeit! Keinen Anarchokapitalismus, keinen Nullstaat. Aber die Dosis macht das Gift. Ich will deutlich weniger Zwang als heute und dadurch deutlich mehr Verantwortungsübernahme der Bürger. Meine Utopie ist eine Verantwortungsgesellschaft.

Indem wir das Potenzial, das in der fantastisch großen Verantwortungsbereitschaft der Bürger liegt, nicht nutzen, sondern es durch immer mehr Regeln, Zwänge und Vorschriften untergraben und erodieren, schwächen wir das ganze Land. Systematisch. Nicht auszudenken, wie viel Innovationspotenzial dadurch verloren geht.

Lasst die Leute endlich wieder Verantwortung übernehmen!


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