Warum niemand „oben“ ist

Lars Vollmer

Meine Tochter (17) hat sich anlässlich der bevorstehenden Bundestagswahl mit den Parteien beschäftigt. Sie ging alle durch und war überrascht: Sie fühlte sich auch bei näherem Hinsehen und Studium der Programme von keiner Partei repräsentiert.

Sie geht auf FridaysForFuture-Demos und identifiziert sich stark mit Naturschutz, würde aber keinesfalls die Grünen wählen, sagt sie. Sie geht altersgerecht gerne shoppen und verkauft selbst alte Klamotten, sie ist also durchaus geschäftstüchtig und wirtschaftlich interessiert, würde aber niemals FDP wählen. An ihrem späteren Studienort hätte sie schon gerne bezahlbaren Wohnraum, würde aber niemals die Linke wählen. Die AfD ist für sie sowieso ein Hassobjekt, und für SPD oder CDU fühlt sie sich bei weitem nicht alt genug.

Zu keiner der Parteien fühlt sie sich hingezogen, mit keiner fühlt sie Verbundenheit, bei keiner kann sie sagen: Ja, so ticke ich auch. Und obwohl sie trotz nicht erreichtem Wahlalter politisch gut informiert und interessiert ist, kann sie nicht einmal sagen, ob sie „Links“ oder „Rechts“ steht. Oder „Mitte“. Offensichtlich kommt sie mit dem Links-Rechts-Schema überhaupt nicht klar.

Da fehlt wohl was. Ein riesiger blinder Fleck ist ungefähr dort, wo sie sich sehen würde: Ganz woanders als da, wo die Parteien stehen. Aber wo genau ist das?

Wo ist oben?

Wer die übliche Rechts-Links-Sichtweise wählt, der sieht viele Aspekte, die die Parteien ausmachen, überhaupt nicht.

Das ist, wie wenn ich genau an der Eckfahne stehe und auf das Tor schaue: Von dort aus ist das Tor kein Tor, sondern nur ein senkrechter Pfosten, und es scheint unmöglich zu sein, ein Tor zu schießen, weil es gar kein Tor gibt. Gäbe es nur diese Perspektive, ergäbe das ganze Fußballspiel keinen Sinn.

In der Politik ist es so, dass ihr, wenn ihr von der Eckfahne des Rechts-Links-Schemas auf die Parteien schaut, z.B. den Aspekt des Drangs hin zum Autoritären überhaupt nicht erkennen könnt. Der wird einfach nicht abgebildet. Denn die Politiker ganz links streben nach einem möglichst großen autoritären Staat (der für alle Menschen auf der Welt da ist) und die Politiker ganz rechts streben auch nach einem möglichst großen autoritären Staat (der allerdings nur für Biodeutsche da ist). Und die in der so genannten Mitte wollen (inzwischen) auch einen möglichst großen autoritären Staat (der allerdings weder für alle Menschen noch ausschließlich für Deutsche da sein soll). Wie ihr gerade jüngst in der Coronakrise gut sehen konntet: Die Politiker der vermeintlichen Mitte überboten sich gegenseitig geradezu in Autoritarismus. Eigentlich wollen in Bezug auf einen starken Staat alle Parteien das gleiche, unterscheidbar nur in Nuancen. Also, ich sehe da nur Pfosten.

Darum bietet es sich geradezu an, die Grafiken, die die Politik und die Parteien und die ganzen damit verbundenen Weltanschauungen beschreiben, mal ganz anders aufzumalen.

Meine Tochter war sich sicher, sie sei weder links noch recht, sondern oben. Aha. Und was ist oben? Und was ist unten?

Also, ich schlage da jetzt mal was vor: Lasst uns die ganze Politik mal von unten nach oben ordnen: Je weiter unten eine Partei ist, desto kollektivistischer ist ihr programmatisches Anliegen und Auftreten. Und je weiter oben, desto individualistischer ist ihre Programmatik.

Dann wird es interessant. Denn plötzlich wühlen alle Parteien aller Farben nur noch am Boden der Grafik herum und nach oben ist ganz viel Luft.

Gut, und natürlich hören das weder Politiker noch erklärte Anhänger der jeweiligen Parteien besonders gern, weshalb ich da inhaltlich etwas nachlegen muss: Was meine ich überhaupt genau mit „kollektivistisch“ und „individualistisch“?

Gruppendenken

Vor der Unterscheidung steht noch ein kurzer Disclaimer: Cave! Der pure Kollektivist und der pure Individualist existieren nicht!

Jeder Mensch ist eine Mischung aus beiden Zutaten. Jeder Mensch ist ein unverwechselbares Individuum. Und jeder Mensch ist gleichzeitig auch ein Gruppentier. Allerdings sind die Mischungsverhältnisse sehr verschieden. Es gibt Präferenzen. Das heißt: Es gibt Menschen, die eher individualistisch ticken und solche, die eher kollektivistisch ticken. Um die Unterscheidung prägnant und diskutierbar zu machen, beschreibe ich zunächst die puren Varianten.

Einverstanden? Also los:

Kollektivisten denken in Gruppen. Sie teilen die Welt in Kollektive ein, also in Gruppen von Menschen, denen dann gleiche Bedürfnisse, gleiches Verhalten, gleiche Bedingungen unterstellt werden. Werte und Normen werden dann als moralisch gut angesehen, wenn sie das Wohlergehen der eigenen Gruppe befördern. Die Interessen des einzelnen Menschen werden dem Kollektiv untergeordnet. Diejenigen, die gegen diese Unterordnung aufbegehren werden je nach Zeitgeist als „Klassenfeinde“ oder „Volksschädling“ oder „Verschwörungstheoretiker“ oder „die liberalen Feinde“ gebrandmarkt und bekämpft.

Die Fragen der Politik sind aus kollektivistischer Sicht aufzulösen in: Welche Gruppe ist gegen welche? Also „Wir gegen die Kapitalisten“ „Wir gegen die Imperialisten“, „Wir gegen die Kommunisten“, „Wir gegen die Juden“, „Wir gegen die Reichen“, „Wir gegen die Nazis“, „Wir gegen die Umweltschweine“, „Wir gegen die Nationalisten“.
Innerhalb der Gruppe geht es um Einigkeit und Gleichheit. Keiner darf vorauslaufen, keiner zurückbleiben, keiner ausscheren. Einigkeit wird hergestellt, z.B. durch ein demokratisches Wahlergebnis. Aus kollektivistischer Sicht heißt es dann: „Der Wähler hat entschieden …“ oder „Der Volkswille ist …“ oder „Die Bürger wollen eine XYZ-Koalition.“

Also: Einem sozialen System wird eine kollektive Meinung untergejubelt. Das Individuum wird assimiliert: Hat jemand die CDU gewählt, dann ist er Christdemokrat und somit für alles, was die CDU propagiert.

Auf jedes Problem wird durch die kollektivistische Brille geschaut: Welche Gruppe profitiert? Welche Gruppe verliert? Was ist der Mehrheitswunsch, der dann für alle zu gelten hat? – Kollektivisten neigen dazu, Gleichheit und Gerechtigkeit gleichzusetzen: Gerecht ist es dann, wenn es gleich ist.

Dieses Symptom lässt sich gut bei der immerwährenden Lohndiskussion ablesen: Dass Akademiker mehr verdienen als Nichtakademiker, das ist für Kollektivisten noch hinnehmbar. Aber dass Dr. Gerd mehr verdient als Dr. Gisela, das geht aus kollektivistischer Sicht nicht. Und dabei ist es egal, welche individuellen Unterschiede in Jobwahl, Branche, Arbeitseinsatz, Arbeitsergebnissen, Verantwortungsübernahme und so weiter zwischen Dr. Gerd und Dr. Gisela bestehen. Denn Individualität existiert für Kollektivisten nicht: Alle Angehörigen einer Gruppe müssen aus ihrer Sicht gleich viel verdienen: nämlich den Tarif, die öffentlich bekanntgegebene Preisliste für Berufsgruppen.

Aus kollektivistischer Sicht klingt das gerecht, weil gleich. Aus individualistischer Sicht dagegen ist Einheitslohn ein Alptraum von Ungerechtigkeit.

Aber ein Kollektivist unterscheidet eben nicht zwischen einzelnen Menschen und sozialen Systemen. Für ihn sind Gruppen von Menschen wie Individuen: Es gibt die Männer und die Frauen und die Weißen und die Schwarzen und die Reichen und die Armen und die Jungen und die Alten und die Bayern und die Friesen und die Unternehmer und die Arbeiter und die Politiker und die Aktivisten und die Ingenieure und die Lehrer und die Homosexuellen und die Heterosexuellen.

Wollen Kollektivisten nun an den Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zwischen den Gruppen etwas ändern, dann rufen sie die Autorität an: Die da oben sollen etwas ändern, die Täter bestrafen und den Opfern helfen. Der einen Gruppe etwas wegnehmen, der anderen Gruppe etwas geben. Wählt ein Kollektivist eine Partei, dann gibt er ihr mit dieser Stimme die Macht über alle Menschen inklusive ihm selbst, damit die Mächtigen in diesem Sinne Gutes tun mögen.

Kollektivisten denken in Macht und Ohnmacht.

„Ich mach da nicht mit!“

Individualisten dagegen denken in Verträgen. Wenn sie bei einer Wahl eine Stimme abgeben, dann wollen sie damit keine Macht anrufen, sondern sie wollen jemandem einen Auftrag geben. Ansonsten schauen sie in den Spiegel, wenn es darum geht, etwas in der Welt verändern zu wollen. Anstatt nach denen da oben zu rufen, fragen sie: Was muss ich selbst tun, wenn ich XY will?

Während Kollektivisten regiert werden wollen und gehorsam der Macht folgen, bleiben Individualisten souverän und unabhängig: Ein Individualist akzeptiert keine Macht über sich. Er gibt seine Stimme nicht ab. Er erteilt bei einer Wahl lediglich einem Politiker einen Auftrag und erwartet dessen Erfüllung. Kollektivisten glauben, sie würden mit ihrem Gehorsam verantwortlich handeln, weil ihre Subordination der gerechten Sache helfen würde. Für Individualisten ist Gehorsam unverantwortlich.

Individualisten sehen sich keineswegs als einzelne Menschen im Universum. Auch sie fühlen sich zu Gruppen mehr oder weniger hingezogen, sie identifizieren sich als Schalke-04-Anhänger, als Chemikerin, als Westfale, als Mann, als Mutter, als Christ, als Europäer. Nur lassen sie nicht zu, dass diese Zugehörigkeit Macht über sie ergreift.

Der Individualist könnte diese oder jene Partei wählen, aber deswegen dürften die Politiker aus dieser Partei aus seiner Sicht noch lange nicht bestimmen, was er zu tun und zu lassen hat.

Ein Individualist stellt seine Meinung nicht über die der anderen, er lässt auch andere Meinungen gelten. Damit tun sich Kollektivisten schwer, für sie zählt nämlich die Gruppenmeinung und andere Stimmen sind zum Verstummen zu bringen, um die gute große Sache nicht zu gefährden, und sei es mit Zensur, Drohung, Spitzelei, Verleumdung oder Gewalt.

Die Existenz von Zensur und Spitzelei waren und sind stets Symptome sehr kollektivistischer Systeme, während Revolverhelden und das Recht des Stärkeren Kennzeichen sehr individualistischer Systeme sind.

Pluralismus, also die Gleichzeitigkeit und Gleichberechtigung vieler verschiedener, miteinander konkurrierender Meinungen und Weltanschauungen, ist ein Symptom für Individualismus. Bei allen Unterschieden zwischen der nationalsozialistischen und der stalinistischen Ideologie – beides sind antipluralisitische, extrem kollektivistische Systeme. Zwischen Nazizeit und DDR-Zeit gibt es umfangreiche Parallelen.

Dagegen war die Bundesrepublik Deutschland zu Beginn ein überwiegend individualistischer Gesellschaftsentwurf. Konrad Adenauer schrieb in seiner Autobiografie: „Nach meiner Auffassung muß die Person dem Dasein und dem Rang nach vor dem Staate stehen. An ihrer Würde, Freiheit und Selbständigkeit findet die Macht des Staates sowohl ihre Grenze wie ihre Orientierung.“

Mit dieser individualistischen Grundauffassung setzten Adenauer und der Ökonom Ludwig Erhard auch eine weitestgehend individualistische Wirtschaftsform durch, nämlich die soziale Marktwirtschaft und begründeten damit nach der Gründerzeit im Kaiserreich die zweite deutsche Phase des wirtschaftlichen Aufstiegs und des Wohlstands für alle.

Nur: Das politische System, das der Parlamentarische Rat 1949 aus der Taufe hob, war eben doch ein kollektivistisches, nämlich die Parteiendemokratie. Oberhalb der kommunalen Ebene können die Bürger nur Parteilisten wählen, also Kollektive. Und im Laufe der Jahre wurden alle bundesrepublikanischen Parteien immer kollektivistischer, auch die FDP.

Auch wenn sich die den Parteien zugrunde liegenden Ideologien zum Teil fundamental unterscheiden: Kollektivistisch sind sie alle. Rein individualistisch ist keine mehr. Alle Parteien wollen mehr Macht und mehr Geld für den Staat, mehr Zentralismus, mehr Umverteilung, mehr „Umsetzen des Volkswillens“, mehr Einmischung des Staats, zum Teil bis weit ins Private hinein.

Zurück in die Mitte

Aber das bedeutet: Da ist eine riesige Fläche unbesetzt. Durch die Oben-unten-Brille betrachtet gibt es weder eine Oben-Partei, noch eine Mitte-Partei. Es gibt nur diverse Unten-Parteien, weil Parteien halt so sind.

Individualistischer wäre eine Demokratie, wenn nicht Parteilisten, sondern Individuen gewählt würden. Aber in einer Parteiendemokratie sind selbst individualistische Politiker gezwungen, kollektivistisch zu handeln, denn sonst schaffen sie es nie auf einen Listenplatz und können als Berufspolitiker nie Karriere machen.

Darum meiden Individualisten die Parteien und gehen z.B. lieber in die Wirtschaft. Selbst wenn sie es mal versuchen, flüchten sie früher oder später aus den Parteien, weil sie keine Meinungen anderer vertreten wollen, die nicht ihre sind. Sie ordnen sich nicht unter, aber genau das erfordert eine Partei. Als Individuum souverän bleiben und Mitglied einer Partei sein, das geht in letzter Konsequenz nicht zusammen. Was am Parteitag beschlossen wurde, ist Programm. Feierabend. Und im Parlament wird in der Fraktion geschlossen abgestimmt, allein aus Gründen des Machterhalts. Basta.

Ein Individualist könnte das nicht. Ich behaupte mal völlig unbewiesen: Im gesamten Bundestag gibt es keinen einzigen Individualisten.

So, und damit wird auch klar, dass ein signifikanter Teil (wenn auch vermutlich eine Minderheit) der Bevölkerung systematisch nicht politisch vertreten wird: Kein Land für Individualisten. Und das ist, was meine Tochter da irgendwie spürte. Nur kann man eben keine Oben-Partei gründen, denn eine solche würde leider sehr schnell ganz nach unten rutschen, zu den anderen Parteien. Weil Parteien eben unten sind.

Mehr und mehr habe ich aber das Gefühl, dass der Hang der Politik zum Kollektivismus, zum Zentralismus, zum Herrschen, zum Autoritären, zum Aufblähen des Staats zu Lasten des Individuums ein immer größer werdendes Problem ist. Nicht für die Kollektivisten, aber für die Individualisten.

Ich muss in Kauf nehmen, dass diejenigen Leser, die eher kollektivistisch denken, diesen Artikel wohl als empörend bezeichnen werden. Gleichzeitig meine ich zu beobachten, dass es immer mehr Individualisten gibt, denen es in diesem kollektivistischer werdenden Land schlecht geht. Die sich ganz grundsätzlich immer weniger wohl fühlen.

Meine These ist: Dieses System, so wie es sich entwickelt hat, ist nicht für jeden was. Eine Mitte zwischen Unten und Oben, mit der sich mit gewissen Abstrichen und Kompromissen sowohl Individualisten als auch Kollektivisten identifizieren könnten, gibt es nicht mehr. Die Balance ist verloren gegangen.

Ich möchte jetzt so ein bisschen an euren Forschergeist appellieren: Hört euch mal um. Geht doch mal mit dieser Unterscheidung im Kopf los und sucht die Individualisten auf, sofern ihr welche kennt. Sind die generell einverstanden oder haben die Bauchschmerzen mit der allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft? Reden die gar schon von der Wiederkehr einer neuen DDR? Wenden die sich von den kollektivistischen TV-Sendern und den Parteien insgesamt und den Berufspolitikern ab? Wünschen die sich wieder mehr Freiheit vom Staat in jeglicher Ausprägung?

Könnt ihr meine Beobachtung bestätigen?

Wenn ihr mich fragt: Wir alle würden gemeinsam weiter kommen, wenn wir nicht ständig das Gemeinsame so betonen würden. Wenn wir neben der (kollektiven) Einigkeit auch wieder mehr (individuelles) Recht und mehr (individuelle) Freiheit zulassen würden. In unserer Hymne heißt es nämlich nicht „Einigkeit und Macht und Gleichheit“, sondern „Einigkeit und Recht und Freiheit“.

Ich glaube, wenn wir die staatliche Einheit auf Dauer erhalten wollen und vor allem den inneren Frieden erhalten wollen, dann müssen wir wieder mehr zurück in die Mitte. Aber eben nicht in die Mitte zwischen Links und Rechts! Vielmehr müssen wir unser politisches System wieder individualistischer gestalten. Oder anders gesagt: Wieder mehr nach oben.

 


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  • Claus Meyer
    12. Juli 2021 at 20:52

    Arbeit und Einkommen, alles reine Glückssache
    Zunächst ist es schon interessant festzustellen, was als Arbeit bezeichnet wird. Arbeit ist demnach alles das, was man finanziell entgelten muss. Daher fällt jede Hausarbeit nicht unter diesen Begriff. Alles, was man privat leistet, gehört somit nicht zur Arbeit, obwohl Hausarbeit einen großen Anteil an der Gesamtarbeit einnimmt.
    Wird Arbeit also gerecht entlohnt, da kann man nach kurzem Überlegen feststellen, dass es ein gerechtes Entlohnen nicht geben kann, da aus jeder Sicht die Bewertung verschieden ausfallen würde. Es hängt in der heutigen Zeit wesentlich vom Interesse des Kapitals ab, es bestimmt, was man dafür ausgeben möchte. Des Weiteren ist es abhängig von Angebot und Nachfrage, das grundsätzlich für alle finanziellen Bewertungen Gültigkeit hat.
    Diese grundsätzlichen Bewertungen sind die Folge des kapitalistischen Geldsystems, das alles nur unter der Vermehrung der eigenen Geldmenge und Besitzes betrachtet.
    Beginnen wir bei der Entlohnung der Menschen. Ganz am Ende steht danach die Entlohnung von körperlicher Leistung. Es bedeutet, dass geistige Leistung viel mehr Beachtung findet. Das ist schon eine Folge des heutigen Verhaltens. Es fängt schon bei der schulischen Ausbildung an. In der Schule wird von Beginn an das Denken in Klassengesellschaften gefördert und geprägt. Die heutige Art der Schulbenotung fördert geradezu das Streben, immer zu den Besten zu gehören. Das wird den Kindern schon so frühzeitig eigetrichtert. So ist es nicht erstaunlich, dass das weitere Leben nicht mehr unter einem Miteinander gelebt wird, sondern stets ein Streben nach mehr fordert. Besser zu sein als mein Nachbar. Hier macht wohl nur die Walldorf-Schule eine Ausnahme, dort wird die Ausbildung noch ganzheitlicher gesehen.
    Man sollte gerade dieses Phänomen der Bildung und Ausbildung einmal mit einem größeren Abstand betrachten. Und damit aus der Sicht, dass Menschen eigentlich nur in Gemeinschaft mit Anderen und der Natur leben und überleben können.
    Glück spielt dabei eine große Rolle im gesamten Leben aller. Das Glück beginnt schon damit, von welchen Eltern man geboren wurde. Dieses Glück setzt sich in jedem sein Leben lang fort. Die folgende Ausbildung ist dann allein eine Frage des Glücks oder des Zufalls. Der Zufall der eigenen, bestehenden Menge an Intelligenz spielt eine große Rolle, weiterhin abhängig von den finanziellen Verhältnissen von Eltern und Großeltern und dann auch noch von den Lehrenden, sowie auch die Verhältnisse der Umgebung, in der man aufwächst, sowie die eigenen Anteile am Verlauf. Und von diesem Glück sind im Grunde wirklich alle abhängig. Das zu begreifen und umzusetzen ist wohl die eigentlich Voraussetzung für ein besseres Leben in Gemeinschaften, das heute ziemlich zu kurz kommt..
    Betrachtet man es von der Seite des Glücks, dann besteht keine Veranlassung, die Unterschiede beim Einkommen extrem auseinander driften zu lassen. Zu dieser Einsicht sollten dann eigentlich alle kommen. Man könnte doch mit einem allgemeinen unterschiedlichen Einkommensverhältnis von eins zu fünf auskommen. Wenn alle oder wenigstens ein Großteil begreifen, wie viel Glück oder Zufall sie in die eigene Position gebracht hat, sollten gerade Machtkämpfe um Geld ein Ende finden. Die weniger Betuchten können insofern auch von Glück reden, da sie auf jeden Fall von den besser Gestellten Unterstützung erfahren dürfen. Wenn weiter damit verbunden wäre, dass außerdem man mit Geld nie wieder Geld machen kann und darf, könnte gleichzeitig der größte Übeltäter der Welt, das heutige Geldsystem, ein Ende gefunden haben, es passt nicht mehr dazu.
    „Wenn die Regierung die Menschen nicht glücklich macht, dann hat sie keine Existenz-Berechtigung“sagt der König von Bhutan, als er in einem Interview mit der „Financial Times“ nach dem „Gross National Product“ (Bruttoinlandsprodukt) seines Landes gefragt wurde, antwortete er, dass in Bhutan „Gross National Happiness“ (Bruttonationalglück) wichtiger sei. Das Glück der Bevölkerung ist in der Verfassung Bhutans festgeschrieben: Während der Begriff des Bruttonationalglücks sowohl an Wohlstand als auch an die Zufriedenheit (Glück) der Menschen gebunden ist, kommt dem „Glück“ aber noch mehr Bedeutung zu. Der 5. König stellte dar, dass das Bruttonationalglück für Bhutan eine höhere Bedeutung hat als das Bruttoinlandsprodukt. So kam es, dass dieses Bruttonationalglück inzwischen von einer großen Anzahl an Wirtschaftswissenschaftlern, Studenten und sogar von Agenturen überall auf der Welt als wichtige Ergänzung zu den rein wirtschaftlichen Indikatoren wahrgenommen wird.
    Mit solchem Glücksempfinden sollte man dann auch auf alle Leitungspositionen ausdehnen können. Wenn Leitende Angestellte oder auch Geschäftsführer von dem Gedanken beseelt sind, das Glück gehabt zu haben, die Verantwortung übernehmen zu dürfen, wäre im Umgang viel gewonnen. Welch anderer Umgang mit allen Menschen würde sich wohl einstellen, wenn Regierungsvertreter sich solche Art zu denken angewöhnen würden. Wenn deren Gefühl ihnen sagen würde, ich bin gewählt und damit auserwählt, dem eigenen Land zu dienen und hilfreich zur Seite stehen zu dürfen. Eine ganz neue Art von Demokratie würde sich daraus entwickeln. Ob wir wohl wirklich wieder Mensch werden wollen?
    Glück ließe sich auch nur durch Wohlergehen oder auch als reinen Zufall interpretieren. Aber welch eine so abweichende Grundeinstellung wäre von Allen zu erwarten, wenn diese begreifen, dass ihre Existenz nur in Gemeinschaft gesichert ist. Und diese Gemeinschaft bezieht sich nicht nur auf das Miteinander, sondern muss dann auch die Natur mit einschließen. Wir würden bestimmt auch viel mehr Achtung vor denen haben, die vom Glück nicht so sehr betroffen sind. Diese Art des Denkens und Handelns würde nicht einmal finanzielle Kosten verursachen, im Gegenteil.

    • Marc Uhlenhake
      13. Juli 2021 at 10:21

      Kollektivismus at it’s best…. Da bleibe ich lieber Individualist.

    • Christoph Betz
      13. Juli 2021 at 16:12

      Es ist antikapitalistisch, damit aber nicht automatisch kollektivistisch. Hier wird eher eine dritte Dimension eröffnet.

  • Josef Zweck
    13. Juli 2021 at 07:13

    Sehr gut formuliert. Ich bin definitiv Individualist. Bin zwar keine 17 mehr, aber mit Deiner Tochter doch mehr oben als unten – egal ob links oder rechts.

  • René Spietschka
    13. Juli 2021 at 13:21

    Danke, das hat ganz neue Gedanken bei ausgelöst und trifft genau einige meiner Schmerzen. René

  • Christian Lange
    13. Juli 2021 at 13:59

    Vielleicht sollte sich Deine Tochter einmal mit der Partei „Die Basis“ beschäftigen – allerdings muss man dann unvoreingenommen sein zum Thema CORONA.

    LG Christian

  • Katrin Hiller
    13. Juli 2021 at 14:40

    Gut. Das war nach Monaten endlich mal wieder ein Beitrag, mit dem ich etwas anfangen konnte. Danke für die Denkanstöße.
    Wobei das Einsortieren in „Kollektivisten“ und „Individualisten“ dann auch wieder ein Denken in Gruppen ist …

    • Lars Vollmer
      13. Juli 2021 at 19:28

      Freut mich, dass Ihnen der Artikel als Denkanstoß gedient hat.
      Die Bezeichnung von Kollektivisten und Individualisten dient hier der Differenzierung, nicht der Einordnung in Gruppen. So ähnlich wie die Jungchen Psychologie bspw. die Introversion und Extroversion als Präferenzen in ihrer Reinform benennt und explizit davon ausgeht, dass es in der Realität „DIE Introvertierten“ nicht gibt. Eben weil die Annahme zugrunde liegt, dass jeder Mensch eine individuelle Mischung der vorhandenen Präferenzen darstellt.

  • Jürgen Behrens
    14. Juli 2021 at 08:40

    Hallo Lars,
    tolle Kolumne. So habe ich das noch nie gesehen, trifft jedoch den Nagel auf den Kopf. Genau dieses Gefühl, dass wir uns der DDR 4.0 annähern habe ich schon lange und kann mich politisch nicht verorten. Ich war schon Mitglied in der CDU, dann mal in der FDP. Ich habe sogar schon mal AfD gewählt, weil ich damals (noch zu Zeiten von Lucke und Henkel) das Gefühl hatte, es braucht eine Alternative für Deutschland. Jetzt bin ich Mitglied bei den freien Wählern und hoffe, dass die nicht auch nach unten abrutschen! Schreib doch in der nächsten Kolumne bitte mal, wie es aus Deiner Sicht funktionieren könnte, das politische System wieder mehr zu individualisieren.

    Viele Grüße, Jürgen Behrens (früher Gedankentanken-Trainer)

  • Claudia Alby
    15. Juli 2021 at 17:26

    Mir hat noch nie jemand so gut erklärt, warum ich jedesmal, wenn ich denke, ich sollte jetzt endlich politisch aktiv werden, einen Rückzieher mache. Vielen Dank! Ich werde weiterhin von woanders aus versuchen, mehr Raum für gesunden Menschenverstand zu schaffen. Und bei jeder Wahl verzweifelt suchen. Dazwischen natürlich auch.

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