Wird die Ampel eine Fortschrittskoalition?
Habt ihr das Sondierungspapier der designierten Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP gelesen? Ich habe es getan, so eher aus Verlegenheit, und die Lektüre hat mich, gelinde gesagt, verstört hinterlassen.
Aber von vorne: Ich wollte mal schauen, ob ich nicht vielleicht jetzt schon den Roten Faden der nächsten vier Jahre, den Grundansatz der gerade entstehenden Ampelkoalition finden könnte. Zwar ist das 12-seitige Sondierungspapier nur eine Art erste Themensammlung, sowas wie ein Flipchartprotokoll einer Brainstormingsitzung, aber vermutlich ist es richtungsweisend.
Die gerade entstehende Ampelkoalition sagt und schreibt allerorten dazu: „Wir fühlen uns gemeinsam dem Fortschritt verpflichtet.“ – Dieses Gefühl hat mich angesprochen, deshalb wollte ich es lesen. Nun ist es aber auch erstmal nur ein Gefühl, eine Art Vorahnung. Mich hat interessiert, ob sich in diesem Papier schon von der geistigen Substanz zeigt, aus der die Politiker den Fortschritt „machen“ wollen.
Ich gebe zu, ich wäre zwar hoch erfreut, wenn diese Vorahnung in tatsächlichen gesellschaftlichen Fortschritt münden würde. Aber gleichzeitig bin ich, als ich mir das Papier vorgeknöpft habe, mit einem ganz anderen Gefühl rangegangen: Mit einer Riesenportion gesunder Skepsis. Meine Vernunft tippte meiner Hoffnung auf die Schulter und flüstert: Hey, vermutlich werden die wieder versuchen, die Probleme mit den gleichen Mitteln zu lösen, mit denen sie geschaffen wurden.
Mottenkiste oder Füllhorn?
Dass das nicht geht, ist ein alter Hut. Wer versucht, die Probleme des 21. Jahrhunderts mit den Methoden aus der politischen Mottenkiste des 20. Jahrhunderts zu lösen, der wird gar nix lösen. Stattdessen würden neue Probleme erschaffen und die alten Probleme vergrößert.
Und ob die Koalitionäre eher in die Mottenkiste greifen oder ob sich tatsächlich in Berlin ein frischer Wind ankündigt, das müsste zumindest in Ansätzen in so einem Papier überprüfbar sein, dachte ich mir.
Zwar ist so ein Papier, das die Öffentlichkeit als Adressaten hat, gezwungenermaßen eine Sammlung von Worthülsen und kein Tacheles. Die notgedrungene Oberflächlichkeit nehme ich niemandem übel. Das muss so sein. Aber die Grundzutat, mit der die vier Küchenchefs Scholz, Baerbock, Habeck und Lindner und ihre gut 30 Küchengehilfen das Festtagsgericht kochen wollen, die ist tatsächlich sehr leicht zu finden.
Das liegt nicht an den Themen. Das Papier setzt zehn Themen: Digitalisierung, Klima, Arbeit, Sozialsystem, Bildung, Wirtschaft, Bauen, Gesellschaftspolitik, Finanzen, Außenpolitik. – Jede andere Regierung hätte die Themen so oder sehr ähnlich gesetzt. Alleine in der Themensetzung zeigt sich Fortschritt oder Rückschritt noch gar nicht. Es sind halt die Themen, die drängen. Die muss die Politik sich schnappen, denn das erwarten die Wähler.
Nein, meine einfache Arbeitshypothese lautet: Fortschrittlich im Umgang mit hoher Komplexität kann ein gesellschaftliches System nur sein, wenn es ein hohes Maß an Dezentralität aufweist. Nur dann sind Selbstorganisation, Pluralismus, Wettbewerb der Lösungen, schnelles Ausprobieren von Alternativen und damit Innovation möglich.
Zentralisierung dagegen ist ein Instrument aus der sozialistischen Mottenkiste des 20. Jahrhunderts. Auch wenn sich alle sozialistischen Staaten immer Fortschrittlichkeit auf die Fahnen geschrieben haben, auch die Sowjetunion, auch die DDR, so war gerade ihr rückschrittlicher Betonsozialismus geprägt von Etatismus und Zentralisierung, also Machthierarchie, Dirigismus, Zentralplanungswirtschaft, Paternalismus.
Und nur damit ihr mich nicht missversteht: natürlich steht jedem Staatsapparat auch ein gewisses Maß an zentralen Aufgaben gut zu Gesicht. Aber eben ganz explizit für all die Dinge, bei denen es weniger komplex, eher statisch und routiniert zugeht und Stabilität wichtiger ist als Innovation.
Dezentralität dagegen ist eine Art Leitsymptom für gesellschaftlichen Fortschritt. Leider ist das nicht Common Sense, das ist mir bewusst. Deswegen werden und können sich vermutlich nicht alle Leser meiner Argumentation anschließen. Es gibt immer noch genügend Leute, die glauben, man könnte Fortschritt und Innovation von oben anweisen, verordnen, befehlen. Aber das funktioniert ja schon für jeden nachprüfbar in Unternehmen nicht.
Für mich jedenfalls ist offensichtlich, dass die fortschrittlicheren Staatsgebilde in der Geschichte – wie etwa die USA, die Schweiz oder die Bundesrepublik in ihren ersten 40 Jahren – immer die dezentrale Organisation betont haben.
So, und wenn ich jetzt die Dezentralbrille aufsetze und aus dieser Perspektive Absatz für Absatz das Sondierungspapier sondiere, springt mir so einiges ins Auge …
1. Moderner Staat und digitaler Aufbruch
Hier ist gleich der erste Satz entlarvend: „Wir wollen einen grundlegenden Wandel hin zu einem ermöglichenden, lernenden und digitalen Staat, der vorausschauend für die Bürgerinnen und Bürger arbeitet.“ – Hier scheint die genuin paternalistische Vorstellung durch, der Staat könnte für die Bürger vorausschauen. Kann er ja nicht. Soll er auch nicht.
Dann: „Der Föderalismus ist die Grundsäule der Bundesrepublik. Um die Leistungsfähigkeit zu erhöhen, braucht es Klarheit bei den Aufgaben und der Finanzierung. Wir streben eine engere, zielgenauere und verbindliche Kooperation zwischen Bund, Ländern und Kommunen an.“ – Das klingt in meinen Ohren so, als wenn der Föderalismus, also die ursprünglich dezentrale Organisationsstruktur der Bundesrepublik, eigentlich dann doch eher störe. Denn sonst bräuchte es ja keine Klarheit. Vielleicht bräuchte es ein „voneinander Lernen“, aber doch keine engere und verbindliche Kooperation. Wenn also die drei Ebenen Bund, Länder und Kommunen „enger“ kooperieren sollen, dann dürfte damit gemeint sein, dass sie mehr im Gleichschritt marschieren sollen. Die dezentrale Struktur soll also zum Zentralismus hingebogen werden.
Der große Vorteil des Föderalismus im Sinne des Fortschritts, dass nämlich mehrere Bundesländer zu verschiedenen Lösungsansätzen kommen und auch die Kommunen Gestaltungsspielraum haben, der zu unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Ergebnissen führt, schrumpft hier zu einer bloßen Machthierarchie zusammen.
Bei komplexen Problemen „zielgenauer” zu werden, setzt außerdem das Vorhandensein von ausreichend Wissen voraus – was in einer komplexen Situation grundsätzlich unmöglich ist. Hier blinkt die Hybris der Zentralplanung zwischen den Worthülsen heraus wie ein Warnsignal.
Dann ist da der Satz „Wir wollen für gute Lebensbedingungen in Stadt und Land sorgen.“ – Sorgen, ja, das will der paternalistische Zentralstaat.
Ich mache mal einen Gegenvorschlag. Im Geiste der Dezentralität würde der Satz in etwa so klingen: »Wir wollen jedem Bürger ermöglichen, nach seinem Gusto gute Lebensbedingungen zu finden.« Oder wie der Alte Fritz einst sagte: „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.“
Und sehr übel stößt mir dann noch dieser Satz auf: „Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs, wie etwa Bürgerräte nutzen, …“ – Räte! Meinen die sowas wie Sowjets? Ich hoffe nicht. Das wäre sonst natürlich ein Mittel aus der Mottenkiste des Sozialismus.
Die Entsprechung im Management von Unternehmen ist das Reporting: Es geht darum, mehr Informationen von unten nach oben zu bekommen, in der Hoffnung, dass dann oben, also zentral, besser entschieden werden kann. Das Problem in einer solchen Struktur ist aber nie die mangelnde Information. Die kann nämlich unter den Bedingungen von Komplexität grundsätzlich niemals ausreichend sein. Sondern das Problem ist der Zentralismus. Die Entscheidungen dürften nicht zentral getroffen werden, sondern müssten an der Peripherie, näher beim Bürger getroffen werden, nämlich dort, wo mehr Kompetenz für das konkrete Problem vorhanden sind.
Ich bin gespannt, welche Details im Koalitionsvertrag dazu stehen werden. Nur soviel: wer Sowjets, also Räte wieder hervorkramt, will Beton anrühren, nicht Fortschritt ermöglichen.
2. Klimaschutz
Dieses Kapitel scheint alleine schon vom Umfang her das zentrale zu sein. Muss es wohl auch. Hier heißt es auch gleich zu Beginn: „Wir sehen es als unsere zentrale gemeinsame Aufgabe, Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen, …“ – Hier geht es mir nun nicht darum, die gute Absicht zu kritisieren. Im Gegenteil! Denn das, was ich hier klar niedergeschrieben sehe, ist die Hybris zu wissen, welche zentralen Anweisungen es bräuchte, um das hinzukriegen.
Und das will die neue Regierung dann in einem „Klimaschutz-Sofortprogramm mit allen notwendigen Gesetzen, Verordnungen und Maßnahmen auf den Weg bringen.“ – Also die Regierung maßt sich an zu wissen, was alles „notwendig“ ist und ordnet das dann an. Das ist Dirigismus und Zentralismus in Reinkultur.
Die Einhaltung der Klimaziele soll dann in einer „mehrjährigen Gesamtrechnung“ überprüft werden. Das setzt voraus, dass eine Gesamtrechnung bei einem komplexen Geschehen überhaupt möglich wäre – und genau das ist die Falle der Planwirtschaft. Es geht nunmal nicht und leitet in die Irre. Die DDR, das Dritte Reich oder das Maoistische China haben auch schon erfolglos versucht, die Wirtschaft in mehrjährigen Gesamtrechnungen zu planen und zu kontrollieren.
Vor meinem inneren Auge geht mir dann immer so ein Management Dashboard durch den Kopf wie in den alten schlechten Filmen aus dem Industriezeitalter, wo der Zigarre rauchende Chef im Ledersessel glaubt, den ganzen Laden mit seiner Steuerkonsole führen zu können. Ja, im 20. Jahrhundert haben viele geglaubt, so gehe Fortschritt …
Für mich sieht Fortschritt so aber nicht aus. Wir wissen doch mittlerweile sehr genau, dass für eine Gesamtrechnung eine unmögliche Aggregation und Verdichtung von Informationen notwendig wäre. Daraus folgt, dass beim Versuch einer Gesamtrechnung notwendigerweise eine Vereinfachung und Entdifferenzierung stattfindet: Man muss die Komplexität rausnehmen. Viele Wissenschaftsdisziplinen haben aber mittlerweile klar herausgearbeitet, dass man Komplexität nur mit (Gegen-)Komplexität bewältigen kann, niemals mit Simplifizierung. Das sind Jahrzehnte alte Erkenntnisse, die hier ignoriert werden. Hat sich das wirklich noch nicht bis zu den Sondierern herumgesprochen?
Für mich klänge ein fortschrittlicher Zugang zum Thema Klima in etwa so: »Wir schaffen bestehende Hürden und Hemmnisse für das klimafreundliche Handeln der Bürger und Unternehmen aus dem Weg und stellen den Bürgern Informationen zur Verfügung, damit sie schneller und besser Entscheidungen treffen können, wie sie ihre CO2-Emissionen reduzieren können.«
Wenn im Papier aber die Rede davon ist „alle Hürden und Hemmnisse aus dem Weg zu räumen“, dann sind damit – so muss ich vermuten – leider nicht die Hürden und Hemmnisse für die Bürger gemeint, sondern die Hürden und Hemmnisse für die Regierung, die sie am zentralistischen Durchregieren hindern.
Weiter heißt es da: “Im Zuge des Ausbaus der Erneuerbaren Energien werden wir ein neues Strommarkt-Design erarbeiten.” – Die Vorstellung, einen ganzen Strommarkt zu “designen”, ist ein ausgesprochenes Oxymoron, also ein Kompositum sich widersprechender Begriffe. Man kann einen Markt nicht designen. Es gibt ja auch kein Hallenfreibad, man kann auch keinen Entschuldungskredit abschließen und auch keine Einzelfallregel aufstellen. Manche Dinge gehen halt nicht. Ein Markt kann nur dort entstehen, wo sich der Staat weitestgehend heraushält, aber eben niemals da, wo er „designt“.
Wenn für die Ampelparteien das Thema Klima wirklich von so zentraler Bedeutung ist, wie die Spitzenpolitiker nicht müde werden zu betonen, dann ist es unfassbar fahrlässig, so zentralistisch, dirigistisch und überheblich vorzugehen, wie dieses Sondierungspapier durchscheinen lässt. Es ist nicht einfach nur schade. Es ist gefährlich. So lassen sich komplexe Probleme nicht lösen.
3. Arbeitswelt
Natürlich ist hier die neue Mindestlohnsetzung in Höhe von 12 Euro der stärkste Ausdruck von Zentralplanung. Abgehakt.
Ansonsten gibt es hier aber auch durchaus einige Sätze, bei denen erfreulicherweise etwas Selbstbestimmung durchscheint. Hier ein gutes Beispiel: „Um auf die Veränderungen in der Arbeitswelt zu reagieren und die Wünsche von Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und Unternehmen nach einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung aufzugreifen, wollen wir Gewerkschaften und Arbeitgeber dabei unterstützen, flexible Arbeitszeitmodelle zu ermöglichen.“ – Offen bleibt natürlich, was genau „unterstützen“ meint. Geschenkt. Immerhin haben die Koalitionäre hier offenbar erkannt, dass das Arbeitsrecht zu starr und veraltet, eben zu dirigistisch und zentralistisch ist.
Allerdings gibt es auch hier Passagen, deren inhärenter Paternalismus fast schon kurios ist: „Gleichzeitig wollen wir die Absicherung für (Solo-)Selbständige verbessern.“ – Das klingt eher wie eine Drohung, denn vom Staat beschützt werden, das wollen viele Selbstständige ja gerade nicht, denn sonst würden sie sich eine sozialversicherungspflichtige, abhängige Festanstellung in Vollzeit suchen.
Am widersinnigsten ist aber gleich der erste Satz des Abschnitts: „Die beste Grundlage für die Gestaltung guter Arbeit ist eine Arbeitswelt, die Sicherheit und Flexibilität bietet.“ – Klar, auch das ist eine Floskel. Aber sie suggeriert ganz ungeniert, dass beides gleichzeitig ginge. In Wahrheit ist es aber doch wohl eher eine Positionierung zwischen zwei Polen: Mehr Flexibilität im Leben bedeutet weniger Sicherheit im Leben. Und umgekehrt: Wenn ich mehr Sicherheit haben will, schränkt das meine Flexibilität im Leben nun mal ein Stück ein. Beides gleichzeitig haben zu wollen ist Unfug. Das wäre, wie wenn sowohl der FC Bayern als auch Borussia Dortmund Meister werden sollen, damit alle zufrieden sind.
Wenn ich Bürger und Unternehmer bin, dann stimmt der Satz nur dann, wenn damit gemeint ist, dass ich die Sicherheit bekomme, dass der Staat nicht ständig die Rahmenbedingungen ändert. Sich also eher heraushält. Das aber ist sicher nicht gemeint.
4. Soziale Sicherheit
Die Absichten, die hier im ersten Absatz beschrieben werden, klingen allesamt richtiggehend liberal (“… damit alle Bürgerinnen und Bürger in der Transformation ein selbstbestimmtes Leben führen können.”) – Sonst fehlt es dem ganzen Abschnitt erwartungsgemäß noch an Konkretem. Die Zielvorgaben werden dafür schon jetzt umso präziser ausformuliert: Etwa „das Mindestrentenniveau von 48 Prozent“, die „zehn Milliarden Euro für den Kapitalstock der Rente“ oder die „1000 Euro Sparerpauschbetrag“.
In diesem Abschnitt wird einmal mehr deutlich, dass sich der Staat als paternalistische Instanz sieht, allumfassende Sicherheit zu garantieren, vor Armut zu schützen und Lebensrisiken abzusichern: “Um diese Zusage generationengerecht abzusichern, werden wir zur langfristigen Stabilisierung von Rentenniveau und Rentenbeitragssatz in eine teilweise Kapitaldeckung der Gesetzlichen Rentenversicherung einsteigen.”
Da im Sozialstaat ohnehin bereits alles zentralistisch organisiert ist, gibt hier in diesem Abschnitt logischerweise nur noch vereinzelte Sätze, die Belege für neuen Zentralismus bieten, wie etwa die „klaren bundeseinheitlichen Vorgaben bei der Personalbemessung“ in den Pflegeberufen.
5. Kinder, Familie, Bildung
Hier fallen mir wieder Schlüsselwörter auf, die den Zentralisierungsanspruch untermauern: „In einem Neustart der Familienförderung sollen bisherige Leistungen in einem eigenen Kindergrundsicherungsmodell gebündelt und automatisiert ausgezahlt werden, so dass sie ohne bürokratische Hürden bei den Kindern ankommen.“
oder
„Bund, Länder und Kommunen sollen gemeinsam darauf hinwirken, …“
oder
„Wir wollen die Jugendberufsagenturen optimieren und ausbauen und eine Exzellenzinitiative Berufliche Bildung auf den Weg bringen.“
Das heißt: Die Politiker sehen irgendwo ein Problem und das, was ihnen dazu einfällt, ist das Problem von oben zu managen, also zu bündeln, zu automatisieren, hinzuwirken, zu optimieren, auszubauen und auf den Weg zu bringen. Der rote Faden wird deutlich, oder?
6. Innovation / Wirtschaft
Auch hier quillt der Paternalismus aus fast allen Zeilen: „Wir werden Unternehmen und Beschäftigte bestmöglich unterstützen, Innovation fördern und neues Zutrauen in Gründergeist, Innovation und Unternehmertum schaffen.“ – Zu glauben, der Staat könnte irgendwie Innovationen oder Gründergeist oder Unternehmertum herstellen, ist absurd. All das entsteht nur dann, wenn er die Finger bei sich behält und die Menschen weitestgehend in Ruhe lässt. Das beste, was er diesbezüglich tun kann, ist: aus dem Weg gehen!
Oder: “Wir wollen mittelständische Unternehmen und Handwerksbetriebe bei der Bewältigung anstehender Herausforderungen unterstützen.” – Die Bewältigung anstehender Herausforderungen ist die ureigenste Aufgabe eines Unternehmers. Nicht des Staats. Jeder Form von staatlicher Unterstützung klingt da wie eine Androhung von neuen Zwängen und Abhängigkeiten. Viel dezentraler und somit fortschrittlicher würde dieser Satz klingen, wenn er so formuliert wäre: »Wir wollen damit aufhören, mittelständische Unternehmen und Handwerksbetriebe bei der Bewältigung anstehender Herausforderungen zu behindern.«
Dann gibt es da den ausdrücklichen Anspruch, durch zentralistische Maßnahmen Gleichheit herzustellen: „Wir fördern regionale Transformationscluster und werden strukturschwache Regionen unterstützen.” – Warum kann eine Regierung nicht einfach hinnehmen, dass es wirtschaftlich stärkere und schwächere Regionen gibt?
Zu Gute halten möchte ich den Verhandlern die vielen Anspielungen auf „fairen Wettbewerb“ oder das Setzen von „Rahmenbedingungen“ – Das ist ja goldrichtig. Es bliebe nur die Frage, ob es sich dabei um neue Vorschriften handelt oder um das Schaffen bzw. Freihalten von Freiraum.
Und schließlich wächst sich der Paternalismus dann doch in schierem, fast schon saukomischem Größenwahn aus: „Projekte wie die Bundesagentur für Sprunginnovation wollen wir weiter ausbauen.“ – Da musste ich zunächst laut lachen. Ich stellte mir den Vorsteher eines Amts vor, wie er anordnet: ›Stellen Sie bis 31. Dezember eine Sprunginnovation in der Motorsägentechnologie her!‹ – Und dann berichtet er dem Bundestag, wie er die Entwicklung des Laserschwerts für die staatlichen Baumfällarbeiten angeordnet hat und wie der Fünfjahresplan im inzwischen verstaatlichten Motorsägenwerk Waiblingen von den Werktätigen übererfüllt worden ist.
Nein, die Bundesagentur für Sprunginnovation gibt es natürlich schon seit 2019, sie firmiert als GmbH in Leipzig und ist mit hervorragenden Fachleuten unter dem Beiratsvorsitz vom legendären Prof. Leibinger besetzt. Ich bin mir sicher, sie wird trotz zahlreicher bürokratischer Fesseln als Bundesagentur einige disruptive Technologien erfolgreich fördern können. Sie bleibt für mich als Institution dennoch ein Paradebeispiel von Zentralplanungsphantasien.
7. Bauen / Wohnen
Bauen soll offensichtlich noch stärker wieder Aufgabe des Staates werden. Sonst könnten sich die Ampelianer ja gar nicht trauen, solche Ziele zu veröffentlichen: „Unser Ziel ist der Bau von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr, davon 100.000 öffentlich geförderte Wohnungen.“
Aber der Schlüsselsatz in diesem Absatz ist für mich dieser hier: „Wir werden durch serielles Bauen, Digitalisierung, Entbürokratisierung und Standardisierung die Kosten für den Wohnungsbau senken.“ – Wenn das ein Unternehmen schreiben würde, wäre das eine klare Strategie (dessen Erfolg sich erst zeigen müsste). Aber hier schreiben künftige Stellvertreter des Staates. Mit anderen Worten: Die Ampel setzt beim Wohnungsbau auf Staatswirtschaft, also auf Zentralismus, Dirigismus und Zentralplanungswirtschaft.
Und das bedeutet: Rückschritt in dunkle Zeiten. Hier ist kein Fortschritt zu erwarten.
Und die Androhung von „Standardisierung, um die Kosten für den Wohnungsbau zu senken“, lässt mich unwillkürlich an Plattenbauten denken.
Dieser Satz kann dieses Fazit nur bestätigen: “Wir werden der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben mehr Freiheiten verschaffen, so dass sie schneller selber bauen kann.” – Die Bundesanstalt soll also vermehrt selber bauen. Nicht private Bauherren. Und Freiheiten schaffen für eine Bundesanstalt kann ja eigentlich nur durch Einschränkungen der Rechte Anderer geschehen, oder? Also lese ich daraus: Der dezentrale private Markt für den Wohnungsbau wird weiter eingeschränkt, die Zentralplanungswirtschaft im Wohnungsbau wird ausgebaut.
8. Gesellschaftspolitik
Auch hier gibt es wieder mehrere zentralistische Sätze, z.B. zur Polizei: „Wir wollen dafür sorgen, dass sie die verdiente Anerkennung und den Respekt für ihre wichtige Arbeit erfahren.” – Die Absicht gefällt mir. Die Vorstellung allerdings, man könne Anerkennung und Respekt (von den Bürgern für die Polizisten) irgendwie machen oder anordnen, ist realitätsfernes obrigkeitsstaatliches Denken. Gefühle kann man nicht machen, man kann sie nur beobachten.
“Wir wollen Freiheit und Sicherheit gewährleisten und die Bürgerrechte stärken.” – Die Bürgerrechte müssten meines Erachtens nicht gestärkt werden, aber sehr wohl verteidigt werden und zwar nicht vom Staat, sondern vor dem Staat. Wenn da stünde, dass die Regierung künftig die Bürgerrechte wieder achten und garantieren wolle, anstatt sie einzuschränken, dann wäre mir damit sehr viel wohler.
9. Finanzen
Es wäre unfair, aus diesem Abschnitt einzelne Sätze zu zitieren, denn natürlich ist der ganze Abschnitt die logische Folge aller Zentralplanungsbestrebungen aus den anderen Abschnitten.
Was vorher schon klar war: Der Staat maßt sich an zu wissen, wie das Geld der Bürger auszugeben ist, er sichert die Finanzierbarkeit seiner zentralistischen Maßnahmen zu. Und das, obwohl er bei ungefähr gleich bleibenden Einnahmen deutlich mehr ausgeben will.
Da bleibt also nur die Erhöhung der Schulden. An diesem Punkt kündigt die Ampelkoalition aber an, den Rahmen der grundgesetzlichen Schuldenbremse zu wahren. Ich bin einfach nur gespannt, was sich der künftige Finanzminister einfallen lässt, um die gewünschten Mittel aufzutreiben. Irgendwo muss die künftige Regierung kräftig sparen, wenn sie ihre Versprechen einhalten will. An welchem Ort gespart werden soll, davon ist im Sondierungspapier noch nichts zu lesen.
Der angekündigte Abbau von Subventionen und überflüssigen Ausgaben klingt jedenfalls vielversprechend. Schade nur, wenn das Geld, das so eingespart werden wird, an anderer Stelle durch neue Subventionen und neue überflüssige Ausgaben wieder ausgegeben würde. Eine spürbare Verringerung der gesamten Staatsausgaben wäre wohl einer der wirksamsten denkbaren Beiträge zum Fortschritt überhaupt. Den aber hat das Papier leider bereits ausgeschlossen.
10. Außenpolitik
Hier sticht für mich insbesondere dieser Absatz ins Auge: „Eine europäische digitale Infrastruktur, ein gemeinsames Eisenbahnnetz, eine Energieinfrastruktur für erneuerbaren Strom und Wasserstoff sowie Forschung und Entwicklung auf dem Niveau der Weltspitze sind Voraussetzungen für die europäische Handlungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit im 21. Jahrhundert. Dafür werden wir die Initiative ergreifen.“ – Das alles sind zentralistische Bestrebungen. Und das sogar noch auf dem europäischen Stockwerk, also sozusagen superzentralistisch. Selbstorganisation hat hier keinen Platz.
Fazit
Eine Dreierkoalition ist zwar nichts neues für die Bundesrepublik, dennoch: Eine Ampelkoalition auf Bundesebene hatten wir noch nie. Da braucht es sicherlich viel Verhandlungsgeschick.
Die Spitzenpolitiker dieser neuen Koalition verkaufen uns ihr gesamtes Projekt als fortschrittlich. Dass wir Fortschritt brauchen, da gibt’s keine zwei Meinungen, das ist klar. Und auch auf welchen Feldern Fortschritt dringend nötig ist, dürfte in der Bevölkerung gar nicht so dermaßen umstritten sein.
Wenn ich aber frage: Wie will die Ampelkoalition die anstehenden Probleme lösen? Auf fortschrittliche Weise oder auf rückschrittliche Weise? – Dazu habe ich gehofft, im Sondierungspapier Hinweise zu finden. Und leider: ich habe sie gefunden.
Schon möglich, dass ich in den einen oder anderen Satz etwas mehr herausgelesen habe als reingeschrieben wurde. Aber der Gesamteindruck zählt: Durch das komplette Sondierungspapier weht von vorne bis hinten der Geist der Zentralisierung. Dieser fatale Hang zum Autoritären, den ich zuletzt im Buch „Der Führerfluch“ detailliert beschrieben habe. Das Papier negiert auf fast schon fahrlässige Weise alle Erkenntnisse, wie Fortschritt zustande kommt. Man kann nämlich theoretisch und empirisch hervorragend nachweisen, dass Fortschritt niemals durch Zentralisierung zustande kommt, höchstens durch den Widerstand dagegen.
Ja, wir sollten der neuen Regierung erst einmal eine Chance geben. Aber leider sind die Formulierungen im Sondierungspapier bereits so eindeutig zentralistisch, dass einfach nicht zu vermuten ist, dass sich dahinter liberales, fortschrittliches Gedankengut verbergen könnte.
Auch die Hoffnung, die ich in letzter Zeit häufig gehört und gelesen habe, dass nämlich die FDP in der Ampelkoalition eine Art Bollwerk gegen die sozialistischen Bestrebungen von SPD und Grünen bilden würde, kann ich aus dem Papier nicht herauslesen.
Wie immer spreche ich den Akteuren ihre guten Absichten nicht ab. Sie wollen ganz sicher einen Um- und Aufschwung für das Land initiieren. Wenn aber der Koalitionsvertrag den gleichen Geist atmet, was sehr wahrscheinlich ist, dann ist die Ampel eine Koalition aus der zentralplanerischen Mottenkiste. Dann ist sie für mich keine Koalition, die irgend etwas mit Fortschritt zu tun hat.
Was aber übrigens mit der Union, der Linken oder der AfD mit großer Sicherheit auch nicht anders gekommen wäre.
Die nächste Ausgabe von »Vollmers Waschtag« erscheint schon bald. Wenn ihr über das Erscheinen informiert werden möchtet, so meldet euch bitte hier unten mit E-Mail Adresse zu der Benachrichtigungsliste an – ihr erhaltet dann bei jeder Ausgabe einen kurzen Hinweis.
Franz Schori
27. Oktober 2021 at 14:34Ich könnte zu vielen Themen etwas kommentieren, picke aber nur das heraus, was ich als Schweizer bestens kenne: Die Bürgerinnen- und Bürgerrechte.
Einerseits gehören hier die Grundrechte rein, man kann auch von den Menschenrechten sprechen. In schwachen Staaten werden die Grundrechte täglich mit Füssen getreten, weil sich niemand darum schert, was selbstorganisierte War Lords, mächtige selbstorganisierte Konzerne und selbstorganisierte Milizen anrichten. War Lords gibt es in Deutschland zum Glück keine, selbstorganisierte mächtige Konzerne gibt es (fast) überall auf der Welt und vor selbstorganisierten Milizen muss man sich zunehmend in acht nehmen. Da ist also durchaus der starke deutsche Staat gefordert. Oder will man den Kampf gegen selbstorganisierte gewaltbereite Milizen anderen selbstorganisierten gewaltbereiten Milizen überlassen? Wohl kaum.
Nun aber zu den Bürgerinnen- und Bürgerrechten im Sinne der Partizipation am Staatswesen. Da könnte sich Deutschland Prinzipien der Schweiz aneignen:
– Volksinitiativen auf Verfassungsstufe
– Referenden gegen Gesetzesänderungen und milliardenschwere neue Ausgaben
– Wie sich die Aufgabenteilung zwischen Bund, Bundesländern und Kommunen von der Schweizer Aufgabenteilung zwischen Bund, Kantonen und Kommunen unterscheidet, weiss ich nicht. Möglicherweise wäre aber auch hier das eine oder andere zu finden, wovon sich Deutschland – wie auch die EU – ein Stück davon abschneiden könnte.
In meiner Heimatstadt gehen wir möglicherweise in ein oder zwei Jahren noch einen Schritt weiter (die Entscheide stehen noch aus): In Bürgerinnen- und Bürger-Workshops sollen kommunale Massnahmen zum Schutz des Klimas beschlossen werden, inklusive der dazu notwendigen Finanzen. Anstelle der gewohnten Stellvertretungspolitik sollen also die Bürgerinnen und Bürger bis zu einem bestimmten Mass über die Verwendung von Steuergeldern mitentscheiden können. Das entspricht zwar noch nicht ganz den Ideal-Vorstellungen von Lars, geht aber in die richtige Richtung, denke ich jedenfalls.
Apropos Steuergelder: Deren Höhe legen wir Schweizerinnen und Schweizer in Volksabstimmungen selbst fest, in Gemeinden ohne Parlament Jahr für Jahr an Gemeindeversammlungen. Auch wenn es eingefleischte Zentralistinnen und Zentralisten kaum glauben werden: Es funktioniert!
Martin Bartonitz
29. Oktober 2021 at 22:41Ja, mit dieser Analyse komme ich in Resonanz:
Zum zunehmenden Paternalismus dieser Zeiten nimmt auch Prof. Norbert Boltz hier Stellung:
https://rumble.com/voawbl-bolz-v1.html