Offener Brief an Georg Thiel
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Sehr geehrter Herr Thiel,
Sie sind Präsident des Statistischen Bundesamts, Chef von ca. 1800 Mitarbeitern und Herrscher über einen Jahresetat von 277 Mio Euro. Ich weiß, dass Sie für ein Anliegen wie meines vermutlich gar keine Zeit haben. Aber wissen Sie, ihr öffentlich einzusehendes Organigramm ist ein solches Kunstwerk, mit so vielen Hierarchieebenen und Abteilungen und Stabsstellen … da habe ich mich gar nicht zurechtgefunden. So dachte ich, ich schreibe Sie lieber selbst an, sonst wüsste ich gar nicht, wen. Nehmen Sie’s mir nicht übel, Sie können meine Frage ja gerne weiterreichen an den dafür Zuständigen.
Meine Frage ist einfach. Ich wüsste gerne einen Prozentwert. Oder wahlweise einen Centbetrag vom Euro. Aber um die Antwort zu finden, braucht es wohl dennoch einen Apparat wie Ihren, denn das Zahlenmaterial ist so kompliziert wie das Wirtschaftssystem in Deutschland.
Ich will meine Frage mal so stellen: Wenn eine Rentnerin ein Pack mit vier Rollen dreilagiger Küchentücher auf das Kassenband im Supermarkt stellt und ihre Geldbörse herausholt, dann fragt sie sich nicht, was sie mit dem Preis von 1,55 Euro da eigentlich bezahlt. Sie glaubt, sie bezahle die Küchentücher. Aber Sie und ich wissen, dass das selbstverständlich nicht stimmt. Nur ein Teil des Preises bezahlt sie für die Küchentücher, also für das Material und die Verpackung, den Transport, die Gehälter der an der Produktion und dem Vertrieb beteiligten Mitarbeiter und für den Gewinn der Eigentümer des Küchenrollenunternehmens. Ein großer Teil des Umsatzes ist allerdings eben NICHT Teil dieser kapitalistischen Wirtschaft, sondern Teil des Sozialismusrucksacks, den wir uns aufgeschnallt haben. Hier habe ich noch mehr zu diesem Rucksack geschrieben, falls es Sie interessiert…
Mich jedenfalls interessiert, wie schwer dieser Rucksack eigentlich ist. Ich schaffe es nicht, mir diese Frage selbst fundiert zu beantworten – ist es ein halber Cent oder 50 Cent – oder die Hälfte des Ladenpreises? Mir fehlt eben Ihr Zugriff auf das dafür notwendige Zahlenmaterial. Und darum könnte ich nur unqualifizierte Schätzungen mit gefährlichem Halbwissen abgeben.
Deshalb frage ich Sie, Herr Thiel! Und ich erkläre mich gerne präziser: Sozialismusrucksack – mir geht es dabei gar nicht um Provokation, ich will nur deutlich sprechen: Wenn wir Konsumenten einen Preis für ein Produkt wie eine Küchenrolle bezahlen, dann gehen vorneweg 19 Prozent an den Staat. Mehrwertsteuer, klar. Zusammen mit all den anderen Steuerarten, die in dem Preis in den Unternehmenskosten versteckt sind – von der Lohnsteuer bis zur Gewerbesteuer – summiert sich also bereits ein Sümmchen. Laut Ihren eigenen Angaben nehmen Bund, Länder und Gemeinden derzeit jährlich etwa 800 Milliarden Euro über die Steuern ein. Zum Beispiel eben durch die bei der Küchenrolle eingepreisten Steuern.
Aber das ist ja noch lange nicht alles! Wenn beispielsweise die Industrie- und Handelskammer ihren Haushalt erhöht und in der Folge die IHK-Pflichtbeiträge für Unternehmen anpasst, dann muss die Dame im Supermarkt mehr für die Küchenrolle bezahlen. Denn der IHK-Beitrag ist eine Zwangsabgabe, wie der Rundfunkbeitrag. Die Unternehmen können sich von beiden nicht befreien und kommen mit dem Gesetz in Konflikt, wenn sie nicht bezahlen. Die alte Dame an der Supermarktkasse bezahlt auf diese Weise also beispielsweise den Tatort und die Fußballübertragungsrechte mit. Und auch rund zwei Dutzend Rundfunkorchester und -chöre. Ich glaube nicht, dass ihr das klar ist. Aber Sie und ich wissen das.
Und weiter. Wenn das Küchenrollenunternehmen Marketing macht, dann geht ein Zwangsgeld an die Künstlersozialkasse für künstlerische Leistungen, die die Marketingagentur erbracht hat. Apropos „sozial“: Sämtliche Sozialversicherungsarten bürden dem Unternehmen Abgaben auf, die es wiederum über die Einnahmen refinanzieren muss. Steigen die gesetzlichen Kranken-, Arbeitslosen- oder Rentenversicherungsbeiträge und die Beiträge für die Berufsgenossenschaften für jeden Mitarbeiter, dann steigt auch der Preis an der Ladenkasse. Der Steuerberater kostet auch was, nämlich umso mehr, je komplizierter das Steuersystem ist. Das Unternehmensgebäude braucht neuerdings vorschriftsgemäß überdachte Fahrradständer und eine dritte Toilette, die Datenschutzanforderungen sind gestiegen, da sind die Vorschriften für ergonomisches Arbeiten, für den Betriebsrat müssen Mitarbeiter freigestellt werden, die Energieabgaben und -umlagen für den teuersten Strom der Welt und so weiter. Das kostet alles Geld. Und zwar immer mehr.
Ach, und Ehre, wem Ehre gebührt: Ich will selbstverständlich Sie und Ihre Behörde nicht unerwähnt lassen. Auch Ihr Haushalt von gut einer Viertelmilliarde steckt natürlich irgendwo in der Küchenrolle. Selbstredend.
Und das alles muss ja der Konsument an der Ladenkasse mitbezahlen. Diese Kosten, die nichts mit dem Markt zu tun haben und auf die das Unternehmen keinen Einfluss hat, weil sie von Politikern, also dem Staat entschieden werden, diesen Anteil am Produktpreis, den meine ich. Ich unterscheide also, bitte erlauben Sie mir diese plakative Sichtweise, zwischen einem marktwirtschaftlichen und einem sozialistischen Anteil, die zusammengesetzt den Ladenpreis ergeben.
Und meine Frage an Sie ist nun: Wieviel Prozent umfasst der sozialistische Anteil?
Ich danke Ihnen im Voraus für Ihre Antwort!
Ihr statistisch gesehen völlig unbedeutender Bürger und Steuerzahler
PS: Lesen Sie dazu auch, was genau hinter dem Sozialismusrucksack steckt: Als ich hinter der alten Dame an der Kasse stand…
PS: Womöglich wollen Sie trotz Lesens noch das Video zum offenen Brief schauen, bitte sehr:
Der nächste offene Brief sowie die nächste Ausgabe von »Vollmers Waschtag« erscheint spätestens wieder in zwei Monaten. Wenn Sie über das Erscheinen informiert werden möchten, so melden Sie sich bitte hier unten mit Ihrer E-Mail Adresse zu der Benachrichtigungsliste an – Sie erhalten dann bei jeder Ausgabe einen kurzen Hinweis.
Die Kolumne von Lars Vollmer, direkt in Ihr Postfach.
Aljoscha Fischer
13. Februar 2020 at 17:03Eloquenter Brief.
Ich leide selbst als Kleinunternehmer mit weniger als 10000 Jahreseinkommen unter den Abgaben.
Und muss dann dennoch im zusätzlichen Angestellten-Verhältnis gänzlich auf Toiletten & Hygiene am Arbeitsplatz verzichten.
Die Milliarden werden ausgegeben, nur sicherlich weniger für Bildung, Gesundheitswesen und generelle Infrastruktur als mehr für Löcher ohne Boden und Projekte ohne Return on Investment.
Da spart der Staat die eigene Jugend kaputt.
Alles Gute!