Stell dir vor, es ist Wahl – und keiner geht hin!

Lars Vollmer

Sollte ich einen Wahlaufruf posten? Jetzt ist ja gerade wieder die Zeit dafür. Also, ich meine diese Aufrufe, doch gefälligst wählen zu gehen. Fußballvereine, Fernsehgesichter, Parteien, Verbände, Zeitungen, Social-Media-Influencer, A-, B- und C-Promis aller Couleur … jede gute Institution und jeder gute Staatsbürger empfiehlt immer wieder gerne, doch bitte zur Wahl zu gehen. Und die Garnierung mit einem moralisierenden Spruch darf dabei natürlich nicht fehlen: Wer nicht wählt, wählt rechts. Wer nicht wählt, wählt links. Wer nicht wählt, wählt extrem. Wer nicht wählt, wählt die Großen. Wer nicht wählt, wählt die Kleinen. Jede Stimme, die man nicht abgibt, ist eine für die AfD. Und so weiter.

Aber jetzt mal langsam. Stimmt das überhaupt?

Ja, ja, mit solchen Wahlaufrufen kann man sich natürlich als staatstreuer, zweifelsfrei demokratieaffiner und überhaupt braver, guter Mensch outen. Aber eigentlich ist manches davon doch eher veritabler Quatsch …

Klassensprecherwahl

Auf deine Stimme kommt es an!“ – Hm. Dass deine Stimme keinen Unterschied macht, ist bei 60,4 Mio. Wahlberechtigten die deutlich logischere Schlussfolgerung. Bei einer Wahlbeteiligung von, sagen wir mal orakelnd, 75 Prozent wären das dann runde 45 Mio. Wählerstimmen gegen deine.

Order andersrum: Um eine Partei um einen Prozentpunkt nach oben zu bewegen, müsstet ihr schlappe 450.000 Wählerstimmen organisieren. Um dann noch die Fünf-Prozent-Hürde zu nehmen, wären 2,25 Mio. Stimmen nötig. Also, dann wählt mal, bitte …

Und schaut da ruhig nochmal genauer hin: Der Sprung in den elitären Club der Parlamentssitzbesitzer braucht wesentlich weniger Stimmen, wenn eine kleine Partei taktisch klug die Fünf-Prozent-Hürde tunnelt und lediglich drei Direktmandate anvisiert. Die 45 Mio. Stimmen teilen sich auf 299 Wahlkreise auf, demnach entfallen im Schnitt auf einen Wahlkreis rund 150.000 Stimmen, so dass eine Partei grob gesprochen nur dreimal 75.000 Erststimmen organisieren muss, um dreimal satt ein Direktmandat zu gewinnen. Es müssen halt genau die „richtigen“ Stimmen sein.

Dennoch: Das letzte Mal, als wirklich eine Stimme einen Unterschied gemacht hat, war wohl eher eure letzte Klassensprecherwahl.

Der zweite Aspekt, der den pompösen Wahlaufrufen ein bisschen die Luft ablassen könnte, ist die wissenschaftliche Untersuchung der Wirkung der Nichtwahl. Für so etwas haben wir ja die Sozialwissenschaften und darin solche rennomierte Politikwissenschaftler wie Armin Schäfer, der Professor an der Uni Osnabrück ist und am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung arbeitet.

Schäfer hat mehrere Artikel zum Thema Nichtwähler veröffentlicht. Also, so richtige wissenschaftliche Artikel mit Peer Review und so weiter. Und was hat der so rausgefunden?

Na, dass es keinen wirklichen Zusammenhang gibt, der darauf schließen ließe, die Nichtwähler würden überproportional einer Partei oder gar einer Richtung angehören.

Wer sagt: Eine nicht gegebene Stimme sei eine für die AfD, der behauptet ja damit, dass die AfD-Wähler fast alle wählen gehen und die AfD somit ihr Wählerpotenzial besser ausreizen würde als die anderen Parteien. Dass also die nicht abgegebenen Stimmen der Nichtwähler eher verlorene Stimmen der anderen Parteien wären. Dass aber die Nichtwähler überproportional zu Parteien tendieren, die nicht AfD heißen, lässt sich in den Daten gar nicht finden. Insofern ist der Spruch „Nichtwähler wählen AfD“ einfach nur ein taktisches Manöver, entspricht aber schlichtweg nicht den Fakten. Genau das gleiche gilt übrigens für alle anderen Parteien.

Es sieht aus wissenschaftlicher Sicht eher so aus, dass die prozentuale Verteilung der Stimmen auf die Parteien sich kaum ändert, wenn mehr Wahlberechtigte zur Wahl gehen.

Wer wählt denn da nicht?

Aber Moment. Auch da lohnt es sich, nochmal genauer hinzuschauen: Was sich durchaus den Daten entnehmen lässt: Es gibt wohl eine starke Korrelation zwischen den sozialen Schichten und der Wahlbeteiligung. Das lässt sich wissenschaftlich sauber vor allem in Großstädten nachweisen. Es ist nämlich so: In den reichen Stadtteilen einer Großstadt ist die Wahlbeteiligung tendenziell deutlich höher als in den ärmeren. In Köln ist das z.B. untersucht worden: Reiche Stadtteile 80% Wahlbeteiligung, arme Stadtteile 44% Wahlbeteiligung. Das ist deutlich.

Ja, und gleichzeitig gewinnen in Köln in den Stadtteilen mit niedriger Wahlbeteiligung eher altlinke Parteien, also Die Linke und SPD. Das liegt am Milieu, nicht an der Wahlbeteiligung.

Die Vermutung, die sich aufdrängt: In den ärmeren Stadtteilen wohnen Leute, die sich finanziell abgehängt fühlen. Und die wählen tendenziell Parteien, die mehr von oben nach unten umverteilen wollen, also linke Parteien. So, und wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die Nichtwähler in einem Milieu ähnlich wählen, wie die Wähler desselben Milieus (das ist nachweisbar), dann würde das bedeuten, dass in Großstädten wie Köln die SPD und die Linke mehr Zweitstimmen bekämen, wenn die Wahlbeteiligung dort hoch ginge.

Aber das ist es dann auch schon.

Armin Schäfer macht unmissverständlich klar, dass es keinen wissenschaftlichen Beleg dafür gibt, dass die Höhe der Wahlbeteiligung das Wahlergebnis maßgeblich beeinflusst.

Aber! Ein dickes Aber kommt jetzt. Zwar verändern die Nichtwähler nicht die Stimmenverteilung, aber die Stärke der Nichtwählerschaft hat durchaus Einfluss auf die soziale Legitimation der gewählten Regierung!

Der Graben wird breiter

Es gibt da keine wahlrechtliche Grenze. Auch wenn nur ein paar tausend Leute zur Abstimmung gingen, wäre damit das Parlament rechtmäßig gewählt. Aber würden wir uns von einem solch schwachen Parlament und der von ihm gewählten Regierung irgendwelche Vorschriften machen lassen?

Es ist doch schon reichlich schräg, wenn eine Bevölkerung von 83 Mio. Menschen einer Regierung gehorcht, die von einer Partei angeführt wird, die gerade mal um die 10 Mio. Stimmen gesammelt hat … während die so genannte „Partei der Nichtwähler“ um die 15 Mio. Stimmen stark ist.

Wenn dann die Medienkommentatoren und die Parteigranden während der Koalitionsverhandlungen versuchen, den „Wählerwillen“ zu ergründen, müsste man doch eigentlich sagen: Die Wahlsieger haben beschlossen, dass sie überhaupt keine Regierung haben wollen.

Und weiter: Da die Wahlbeteiligung in den sozialen Schichten sehr unterschiedlich sind, beruhen die Wahlergebnisse nicht auf der gleichen Legitimation für alle sozialen Schichten: Ärmere Milieus unter den Großstädtern sind jedenfalls unterrepräsentiert. Das Ideal, dass im Bundestag alle sozialen Schichten vertreten sind, wird klar verfehlt.

Die Demokratie hat offensichtlich einen guten Teil des Volkes abgehängt.

Jetzt könnt ihr sagen: Klar, aber die könnten ja zur Wahl gehen, wenn sie wollen. Sie haben die gleiche Chance wie alle anderen auch zu wählen und sich dadurch repräsentieren zu lassen. Stimmt. Aber meine Frage ist da: War das mit den Abgehängten schon immer so?

Und da wird’s interessant: Dieses Phänomen gab es in der alten Bundesrepublik so nicht!

Ein Beispiel: Im Bremen des Jahres 1972 betrug der Unterschied der Wahlbeteiligungen der verschiedenen Stadtteile null Prozentpunkte. Das heißt: Damals gab es in armen wie in reichen Vierteln gleich viele Nichtwähler. Bei der Bundestagswahl 2009 aber spreizte sich die Wahlbeteiligung zwischen den verschiedenen Stadtteilen von Bremen um 35 Prozentpunkte!

Und diese Tendenz wurde für viele Städte überprüft und gefunden: Die einkommensschwächeren sozialen Schichten in den Großstädten werden tendenziell demokratisch-politisch immer stärker abgehängt. Die machen nicht mehr mit.

Übrigens: Für die (derzeit immer kleiner werdende) Landbevölkerung ist das viel schwerer rauszufinden, weil da die Milieus nicht so deutlich in Wahlkreisen getrennt sind: Auf dem Land finden sich in einem Wahlkreis eher alle Schichten. Da funktioniert es nicht mehr mit dieser statistischen Methode. Um dort zu Erkenntnissen zu kommen, müssten die Wissenschaftler die Methode wechseln.

Für die Schweiz habe ich allerdings gefunden, dass dort die Wahlbeteiligung auf dem Land stärker zurückgeht als in der Stadt. Der Schweizer Rundfunk SRF nennt das dann „Grünrutsch“.

Wenn wir schon bei statistischen Trends sind: Es gibt noch einen anderen Trend: Die Anzahl der Briefwähler geht stark nach oben. 2017 waren es bereits 28,6 Prozent aller Wähler. Ein Drittel der Stimmen wird also bereits per Briefwahl abgegeben. Vermutlich diesmal noch mehr.

Außerdem: Je größer der Migrantenanteil desto geringer die Wahlbeteiligung. Und noch ein wichtiger Fakt: Die Jungen wählen weniger. Aber die Jugendwahlbeteiligung war schon immer niedriger, das ist nichts Neues. Auch nicht neu ist, dass die Wahlbevölkerung immer älter wird. Mehr als die Hälfte der Wähler ist mittlerweile über 52 Jahre alt. Der Durchschnitt der Nichtwähler ist 46 Jahre alt.

Einer davon ist mein Bruder.

Die Demokratie feiern

Der allerdings wurde unfreiwillig Nichtwähler. Auch sowas gibt’s. Mein Bruder lebt derzeit in Vietnam. Erst Mitte 2021 wurde dort wegen der Delta-Variante, die dort „Indische Variante“ heißt, ein vollständiger Lockdown verhängt. Sogar die Supermärkte sind dort geschlossen. Die Versorgung mit Lebensmitteln wird durch das Militär organisiert und teilweise durch Frauenbrigaden erbracht.

Vietnam ist bei der Digitalisierung recht flott dabei: jeder Bürger bestellt dort online Lebensmittel, die er dann vom Staat geliefert bekommt. Ich kann mir keine größere Abhängigkeit vom Staat vorstellen, aber dieses Fass mache ich hier jetzt nicht auf.

Der Punkt ist: Mein Bruder will auch wählen. Also hatte er in seinem letzten deutschen Wohnort – so ist es vorgeschrieben – die Briefwahl online beantragt. Seine Wahlunterlagen wurden dann auch sofort verschickt. Per Post. Nach Vietnam.

In Vietnam gibt es zwar formal gesehen eine Post. Aber es gibt dort niemanden der Post verschickt. Ein Brief kommt in Vietnam typischerweise nicht an.

Ob er die Wahlunterlagen digital bekommen könnte? Natürlich nicht.

Seine amerikanischen Kollegen, die mit ihm in Vietnam beim gleichen Konzern arbeiten, lachen ihn jetzt aus. Für die wurde das bei der letzten US-Präsidentschaftswahl so organisiert: Die Botschaft der USA lädt alle in Ho-Chi-Minh-Stadt lebenden US-Bürger in ihre Räume ein, um dort ihre Stimme abzugeben. Anschließend gibt es ein großes Barbecue und die Demokratie wird gefeiert. Das ist gerade in Vietnam ja besonders symbolträchtig.

Ich möchte den deutschen Amtsschimmel hier nicht über Gebühr mit den pragmatischen Amerikanern kontrastieren, aber so wird mein Bruder jetzt eben Nichtwähler. Also jedenfalls Teil der Mehrheit.

Und das ist aus der ganzen Nichtwählerthematik mein größtes Fragezeichen: Was würde passieren, wenn immer weniger Menschen die Demokratie feiern, indem sie wählen gehen? Was passiert mit einem Land, dessen Legislative und Exekutive nur noch von einem sehr geringen Teil der Bevölkerung legitimiert werden?

Mittlerweile im Paralleluniversum …

In der Verfassung ist keine Mindestwahlbeteiligung vorgesehen. Aber überlegen wir doch mal: Ab wann ist ein Parlament de facto nicht mehr sozial legitimiert?

Wann bricht das? Wo ist die Untergrenze der Demokratie? Wann sind die Bürger nicht mehr einverstanden mit ihrer eigenen Wahlbeteiligung?

Und: Wann schlägt das dann in Selbstorganisation um? Also: Ab wann übernimmt die Hinterbühne der Gesellschaft, wo sich ja auch schon jetzt abseits des politischen Systems Bürger selbst organisieren, um gesellschaftliche Aufgaben zu lösen?

Spinnen wir doch mal ein Szenario. Was würde passieren, wenn die Partei des Bundeskanzlers nur noch von 5 Mio. Wählern gewählt wird?

Wenn nur noch 10 Prozent der Wahlberechtigten überhaupt wählen?

Der Firniß der Bundesrepublik ist vielleicht dünner als man denkt. Wir haben schon jetzt eine Gruppe aus nicht Wahlberechtigten und Nichtwählern in der Größenordnung von ca. 40 Mio. Menschen – gegenüber ca. 45 Mio. Wählern.

Was passiert, wenn es zusätzlich für die etwa 25 Mio Wähler, die heute zwar wählen, aber eher nicht die künftige Regierung wählen, attraktiv wird, aus Protest erst gar nicht zur Wahl zu gehen?

Dann würden etwa 15 Mio. Wähler den restlichen grob 70 Mio. gegenüber stehen. Wenn dann die Regierung entscheidet, dass z.B. Masken getragen werden müssen oder das die Maskenpflicht abgeschafft werden soll … macht man das dann noch, was die sagen?

Das wäre doch ein dramatischer Autoritätsverlust.

Was ist, wenn die Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund gemeinsam mit den nicht wahlberechtigten Migranten in Millionenhöhe nicht mehr zur Wahl gehen, sondern selbstorganisiert z.B. ein islamisches Parallelkalifat errichten?

Oder was, wenn die Wähler, die sich vom gegenwärtigen politischen System abwenden, via Internet eine eigene, z.B. basisdemokratische Organisationsform begründen und sich so parallel selbst organisieren und die Bundes- und Landesregierungen und deren Gesetze ignorieren? Werden dann die Bundeswehrpanzer losgeschickt, um die abtrünnigen Regionen zum Gehorsam zu zwingen?

Im Kleinen kann man solche Tendenzen juristisch und sicher auch propagandistisch bekämpfen, indem sie irgendwie als „Rechts“ oder „Reichsbürger“ oder „Islamisten“ oder „Verschwörungstheoretiker“ oder mit irgendwelchen neuen Etiketten abgetrennt und abgewertet werden.

Aber es gibt selbstverständlich irgendwo einen Kipppunkt, wo die Bundesrepublik machtlos werden würde.

Sie ist es ja jetzt schon in den durch eingewanderte Clans regierten Stadtteilen in einigen deutschen Großstädten, wo sich schon heute die Polizei nicht mehr traut für Recht und Ordnung zu sorgen. Und diese Parallelgesellschaften sind nicht chaotisch. Die sind durchorganisiert. Mafiöse Strukuren sind bekanntlich hoch leistungsfähig und durch große Loyalität gekennzeichnet. Nicht, dass ich solche Strukturen den heutigen politischen Organisation vorziehe, weil sie nämlich auf Gewalt gründen.

Aber Moment. Das politische System der Bundesrepublik Deutschland basiert ja auch auf Gewalt, die grundgesetzlich vom Volke ausgeht und deren Ausübung dem Staat vorbehalten ist.

Ich vermute: wenn die demokratische Legitimation der Regierung und damit die ihr zugeschriebene Autorität sinkt, wird es nicht mehr nur vereinzelte Verweigerer und Querulanten geben, sondern dann würde ansteigend und am Ende massenhaft der Gehorsam verweigert werden.

Wenn man das zu Ende denkt, geht das in Richtung Sezession, also Abspaltung von Gebietsteilen und Neugründung von Staaten.

Und dass wir uns hier nicht falsch verstehen: Ich halte es durchaus für eine Stärke von menschlichen Gesellschaften, sich selbst zu organisieren, wenn Teile des Staates oder der Staat im Ganzen nicht mehr legitimiert sind. Wir haben das am Ende des zweiten Weltkriegs erlebt. Und auch der Unrechtsstaat der DDR wäre vermutlich nie gekippt worden, wenn die Bürger sich nicht selbst organisiert hätten.

Durch das Internet ist eine solche Entwicklung heute jedenfalls eher wahrscheinlicher als unwahrscheinlicher geworden, weil es dadurch heute für soziale Gruppen viel einfacher geworden ist, sich selbst zu organisieren. 1988/89 war das noch ein Problem, aber Flugblätter braucht heute keiner mehr. Heute gibt es Telegram- oder Whatsappgruppen.

Im Internet gibt’s diese Ghettos von Gleichgesinnten schon in großer Zahl. Warum sollte das weniger werden, nur weil ständig moralisierend aber erfolglos für eine hohe Wahlbeteiligung appelliert wird?

Also: Der Firniß der Bundesrepublik Deutschland ist vermutlich viel dünner als die meisten glauben. Zu Ende gedacht: Irgendwann reißt er.

Ich bin jetzt kein Regierungs- oder Politikberater, ich beobachte nur. Und mir ist schon klar: Viele würden diesen Text als Legitimation sehen, noch härter gegen so genannte „Verschwörungstheoretiker“ oder „Querdenker“ vorzugehen. Oder als Zustimmung für noch lautere Appelle zur Wahlbeteiligung.

Aber ob das etwas ändert?

Mögen die Spiele beginnen …

Finde ich das skizzierte Szenario gruselig? Ja. Und zwar aus der Perspektive, dass dann, wenn die Bundesrepublik Deutschland den Faden verlieren würde und den Politikern das zu regierende Volk abhanden käme, die Komplexität und damit die Ungewissheit dramatisch steigen würde. Was passiert denn dann? Dann kann es vor allem zu echter Gewalt kommen. Ziemlich wahrscheinlich sogar. Und davor fürchte ich mich. Ich lehne Gewalt so rundheraus ab, dass ich dessen Ausbruch selbstverständlich verhindern wollte.

Gleichzeitig könnte sich parallel zum Niedergang des alten Systems so aber auch ein neues und viel leistungsfähigeres Konstrukt bilden. Weil selbstorganisierte Gemeinschaften meistens zeigen, dass sie sehr viel besser mit komplexen Problemen umgehen können. Ein System mit viel Selbstorganisation wäre einfach moderner, fortschrittlicher, zeitgemäßer.

Vielleicht ist die Errichtung eines neuen Systems auch die einzige Möglichkeit ein veraltetes System zu verändern, wenn es reformunfähig ist.

Ich stimme also nicht ein in den Chor der Wahlaufrufer. Vielmehr sollte es doch bitteschön jedem selbst überlassen sein, zu wählen oder eben auch wahlweise sich der Stimme zu enthalten. Demokratie kann es doch nur freiwillig geben. Und ich finde: Je mehr es notwendig wird, moralische Appelle zu erheben, um das System zu stützen, desto lächerlicher wird das am Ende noch. Es wird irgendwann zur Farce.

Wer seinen Kindern Liebe predigt, lehrt den Kinder nicht Liebe, sondern Predigen. So ist das auch mit der Demokratie. Die Appelle erzeugen vielleicht sogar durch die ständige Überhöhung ein Jetzt-erst-recht-nicht-Gefühl für die Nichtwähler.

Ich selber gehe wählen. Und vor ein paar Tagen hab ich mich auch endlich entschieden, für welche Partei ich stimme. Das fiel mir lange ziemlich schwer, denn gegen jede einzelne Partei fallen mir gute Gründe ein, sie nicht zu wählen. Aber ich gehe trotzdem hin und mache meine beiden Kreuze.

Da schwingt sicher auch mit, dass ich merke, dass meine Tochter mich als Vorbild in dieser Sache ansieht. Ich spüre diese Verantwortung des Vorbilds. Und die drängt mich eher zum Wählen als zum Nichtwählen.

Außerdem glaube ich an die Werbung dieses Wettanbieters: Wenn man selber eine Wette abgegeben hat, ist das Rennen viele spannender! Mitmachen macht das Spiel zu deinem Spiel. Welches Spiel allerdings einer mitmacht, ist jedem selbst überlassen. Man darf niemanden zum Spielen zwingen – davon bin ich zutiefst überzeugt.


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  • Joachim Schlosser
    24. September 2021 at 08:08

    Cartoonist Harm Bergen hat zum Thema der Abgehängten vor einigen Wochen eine sehr passende Zeichnung veröffentlicht: https://de.toonpool.com/cartoons/Linke%20und%20Nato_390845

    Wenn die Menschen nicht mehr das Gefühl haben, dass Themen, die sie direkt betreffen, überhaupt noch als entscheidungsrelevant im Politikbetrieb angesehen werden, dann wenden sie sich wohl tendenziell eher ab.

    Auch hier stimme ich dir zu: Appelle, wählen zu gehen, sind vermutlich wenig hilfreich. Relevante Politik anzubieten wäre es, das ist aber anstrengend, anstrengender, als sich im Parteien-Kleinklein gegenseitig des Sandeimerchenklaus zu bezichtigen.

  • Antje Bach
    24. September 2021 at 10:17

    genial-großartig-kenntnisreich-wohlrecherchiert-wortgewandt-herzlich-humorvoll-demokratisch: DANKE!

  • Manfred Hoppe
    24. September 2021 at 10:44

    Danke für die Gedankensammlung. Der Fall, dass bei einer Wahl niemand wirklich eine Regierung haben will und es deshalb auch keine gibt, sieht das Grundgesetz nicht vor. Also bitte doch Aufrufe, wählen zu gehen. Aber eben nicht mit der Begründung, irgend eine Richtung profitiere davon, sondern weil die Nicht-Wahl – wie dargelegt – letztlich das demokratische System beschädigt. Ob sich nach einem kompletten Legitimationsverlust dann etwas neues bildet, das wiederum als demokratisch zu bezeichnen wäre, halte ich für wenig wahrscheinlich. Zu Ende des 2. WK und auch der DDR gab es Systeme, die politisch, moralisch und wirtschaftlich am Ende waren. Wenn sich eine Wohlstandsgesellschaf zerlegt, dürfte das anders aussehen. Ein Blick in in die neuen Foren der Selbstorganisation im Netz dürfte ausreichend Vorgeschmack geben.

  • Sebastian Zwingmann
    24. September 2021 at 13:46

    Erstaunlich was dem Lars doch alles zu Nichtwählern einfällt. Hätte am Anfang nicht erwartet das die Legitimation auch beinhaltet wird.
    Immer wieder lesenswert, die Beiträge.

    Ich bin gespannt auf die Nachbetrachtung, wenn in ein paar Wochen die Koalition steht

  • Peter Zauner
    24. September 2021 at 14:11

    Hochinteressant! So habe ich das Thema „Wahlen und Regierungsbildung“ noch nie betrachtet. Die Zahlenspiele sind schon erschreckend und machen nachdenklich. Ich werde jedenfalls – auch ohne Aufruf – wählen gehen; denn für dieses Recht haben unsere Vorfahren lange kämpfen müssen.

  • Thomas Wiegand
    25. September 2021 at 18:59

    Sehr geehrter Herr Vollmer,
    eine schon recht lange Zeit Ihre Beiträge mit großem Interesse lesend, möchte ich diesem Beitrag zustimmen. Die Entscheidung, ob man wählt oder nicht, muss eine individuelle sein und bleiben, ebenso wie die Konsequenz aus dieser Entscheidung. Wer ‚aktiv‘ nicht wählt, muss sich der möglichen Konsequenzen – welche Sie oben beschrieben haben – bewusst sein. Er (oder sie) verlässt aktiv das demokratische ‚Spiel‘, wie Sie es nennen. Und wenn man das tut, darf man sich dann konsequenterweise auch nicht über ‚Spielregeln‘ echauffieren, welche von den Parteien aufgestellt werden. Ich vermute jedoch, dass die Mehrzahl der Nicht-Wähler keine politischen ‚Leisetreter‘ sind. Und das wäre in einer Demokratie eine Tendenz, welche das ‚Spiel‘ Demokratie auf lange Sicht gesehen ad absurdum führen und Raum für Gewalt eröffnen würde, die ich genauso verabscheue wie Sie.
    Es grüßt Sie herzlich
    Thomas Wiegand.

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