Beziehen Sie keinen Standpunkt
Ich habe eine Idee, was der Grund dafür sein könnte, dass die Volksparteien in Deutschland gerade allesamt aufhören Volksparteien zu sein. Wie auch immer Sie den Punkt definieren, ab der eine Volkspartei diesen Namen nicht mehr verdient: Die CDU und die SPD haben de facto im vergangenen Jahrzehnt jeweils Millionen von Wählern verloren und der Trend weist weiter abwärts. Selbst die derzeit noch volksparteiischste der ehemaligen Volksparteien, die CSU, hat laut den Umfragen vor der Landtagswahl in Bayern am 14. Oktober 2018 Probleme, ihre Wähler bei der Stange zu halten. Offenbar schaffen es die großen Parteien einfach nicht mehr, diese Bindungskraft zu entwickeln, wie sie es zu früheren Zeiten vermocht haben.
Woran das liegt, können Sie auf viele verschiedene Weisen deuten. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer. Lassen Sie mich aber, um meinen nicht ganz so naheliegenden Gedanken genauer zu erklären, ein wenig ausholen. Ich erzähle Ihnen dazu von einem Besuch von mir und meiner Tochter in der Tate Gallery, von Karaoke-Videos, von einer schwachen Erinnerung an eine Pressekonferenz mit Dieter Bohlen und von einem interessanten Buch.
Gut, eins nach dem anderen.
Modern Tate und Modern Talking
Neulich war ich also mit meiner halbwüchsigen Tochter in London. Und weil sie wollte, gingen wir in die Tate Modern, die berühmte Galerie für moderne Kunst. Meine Tochter interessiert sich für Kunst und setzt sich auch selbst schon Kunstkritik aus. Sie produziert nämlich Karaoke-Videos im Internet, das heißt, sie lässt Songs im Original laufen und tanzt und singt zum Playback. Damit hat sie sich schon eine ganz ordentliche Schar an Followern verdient und sie bekommt von ihrem Publikum sowohl viel positive, wertschätzende, aufbauende als auch ab und zu mal fiese, vernichtende, ätzende Kritik. Auf Teenager-Niveau klingt das dann so etwa wie: »Boah, bist du hässlich!« und so weiter.
Angelegentlich einer solchen Schmähkritik sagte sie mir mal: »Jetzt arbeite ich schon so lange daran, mein Selbstbewusstsein zu steigern, und jetzt kommt diese Haterin und macht das alles kaputt.«
Nein, nein, diese Haterin macht gar nichts kaputt und um das Selbstbewusstsein meiner Tochter ist es gut bestellt, sie macht das hervorragend. Aber da sie sich mit ihren Videos exponiert, erntet sie eben auch die Erfahrung, dass es nicht so einfach ist, ein breites Spektrum vielgestaltiger Rückmeldungen auszuhalten. Da geht es ihr wie jedem Feld-, Wald- und Wiesenpolitiker und jedem handelsüblichen Popstar. Selbst ich als Buchautor kenne das ja schon. Ich habe da auch so meine Hater. Auf meinen eigenen Plattformen lösche ich deren Kommentare und blocke sie, wenn sie beleidigend oder unfair werden. Ansonsten versuche ich, sie zu ignorieren, so gut es mir eben gelingt.
Ja, und dann standen meine Tochter und ich in der Tate Gallery vor einem Bild von Jackson Pollock. Das Bild aus der Epoche des amerikanischen abstrakten Expressionismus, auch genannt Action Painting, war kurz gesagt eine Leinwand voll mit bunten Punkten und Kleksen, also einfach verspritzte oder verkleckerte Farbe. Großartig, wie ich finde.
Meine Tochter mochte es auch und stand minutenlang davor, ich wurde ungeduldig. Sie sah in den Kleksen immer neue Objekte und wollte sie mir zeigen. Ich fand das völlig abwegig und sah frank und frei: gar nichts.
Ein Pollock sagt eben irgendwie alles und nichts. Und das gleichzeitig. Er kann alles Mögliche bedeuten und ist völlig offen für jegliche Interpretation. Aber wer total offen ist, ist eben auch nicht ganz dicht. So ein Bild kann genauso gut überhaupt nichts bedeuten, sondern ein reiner Marketinggag, also Publikumsverhohnepiepelung sein.
Dieses Gefühl der unauflösbaren Vieldeutigkeit ging mir nicht mehr aus dem Kopf und ich beschäftigte mich damit noch einmal, als ich ein kleines Büchlein des Leibniz-Preisträgers und Islamwissenschaftlers Thomas Bauer las, aber dazu gleich mehr. Zunächst mal der Bohlen.
Ich erinnere mich verschwommen an eine Pressekonferenz vor langer Zeit anlässlich der Wiedervereinigung des Pop-Duos Modern Talking, bestehend aus Thomas Anders und Dieter Bohlen. Dem kommerziellen Erfolg der beiden angemessen war der Raum völlig überfüllt mit Journalisten. Dieter Bohlen saß vorne und wurde von einem Reporter der Bild-Zeitung damit konfrontiert, dass laut einer Umfrage 98 Prozent der Deutschen seine Musik scheiße fänden.
Also in etwa das, was meine Tochter mit »Boah, bist du hässlich!« und Jackson Pollock mit »Farbklekse« aushalten mussten: vernichtende Kritik.
Aber Dieter Bohlen strahlte, stand auf, ging zu dem Bild-Reporter hin, nahm seinen Kopf in beide Hände und küsste ihm auf die Stirn. Dann sagte er »Wie geil ist das denn?! Zwei Prozent aller Deutschen finden unsere Musik super! Das bedeutet Siebenfach-Platin. So viele Platten haben wir noch nie verkauft! Danke!«
Die Unendlichdeutigkeit des Seins
Ja, so kann man es deuten. Die Wirklichkeit ist eben grundsätzlich mehrdeutig, oder anders gesagt: Sie ist ambig. – Das ist wirklich ein deutsches Wort, auch wenn es selten verwendet wird. Ambiguität ist auch das Thema dieses kleinen Büchleins von Thomas Bauer, das mir vor Kurzem in die Hände fiel.
Ich konnte mir vorher gar nicht vorstellen, dass das ein gutes Buchthema sein könnte, jetzt weiß ich es besser. Der Titel des Buches lautet »Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt«.
Verlust an Mehrdeutigkeit? Wenn die Mehrdeutigkeit verschwände, dann wäre doch alles bestens, oder? Wären wir nicht glücklich und zufrieden, wenn wir alle endlich die eine wahre Bedeutung aller Dinge kennten? Wenn der Verlust an Mehrdeutigkeit ein Verlust sein soll, dann wäre ja Mehrdeutigkeit ein Gewinn und der Wunsch nach Eindeutigkeit ein Problem.
Ja, aber genau das ist die gegen den Strich der üblichen Meinungslage gebürstete These des Autors, und das finde ich hochinteressant. Und dann fielen mir Bohlens ganz eigenständige Interpretation der Meinungsumfrage und die ganz eigenen Kunstinterpretationen meiner Tochter wieder ein.
Ich weiß jetzt, dass Ambiguität eine Skala mit fließenden Werten zwischen zwei Polen ist. Auf der einen Seite ist der Pol der totalen Eindeutigkeit und auf der anderen Seite der Pol der totalen Mehrdeutigkeit, sozusagen der Pol der Unendlichdeutigkeit. Wenn etwas alles bedeuten kann, ist es natürlich auch nichtssagend.
Thomas Bauer vertritt nun die Meinung, dass beide Pole nicht das Gelbe vom Ei sind. Dass also nicht nur extreme Vieldeutigkeit, sondern auch Eindeutigkeit ein Problem sein können, vor allem, wenn wir zu viel davon haben.
Nehmen Sie den Islam, das Kerngebiet von Thomas Bauer. Bestrebungen, die Anzahl der möglichen Auslegungen des Korans auf eins zu reduzieren, sind gefährlich, denn das ist nichts anderes als religiöser Fundamentalismus. Jeder Prediger, der das tut, schürt letztlich Gewalt und Terror.
Es gibt in Wahrheit hunderte gültige, also anerkannte Auslegungen des Islam. Die Frage, welche davon die richtige, die wahre, die einzige ist, führt in die Irre. Es ist sogar so, dass eine der wichtigsten Eigenschaften einer jeden Religion die Vieldeutigkeit ist. Und die gilt es zu erhalten, nicht zu beseitigen.
Für mich als gelernter Ingenieur mit meinem naturwissenschaftlich-mechanistisch ausgebildeten Hirn war Ambiguität lange etwas Schmerzhaftes, Unangenehmes, etwas das ausgehalten werden muss. Aber ich habe gelernt, dass das Aushalten von Ambiguität einen großen Nutzen haben kann.
Keine der Parteien hat sie!
In der Wirtschaft ist die Kulturtechnik des Managements so ein permanenter Versuch, die Mehrdeutigkeit im Business-Alltag aus der Welt zu schaffen. Management geht davon aus, dass es nur eine optimale Lösung für jedes Problem geben kann. Und dass es möglich ist, diese Lösung zu finden. Darum beschäftigt sich Management auch tagaus, tagein mit der Optimierung von Geschäftsprozessen.
Dieses Denken erschwert aber den Umgang mit sozialen Systemen, die anders als eine Stanzmaschine grundsätzlich auch Ambiguität in sich tragen. Deswegen tut sich Management so schwer im Umgang mit Menschen. Und deshalb werden derzeit, da die Relevanz von Komplexität der Geschäftswelt und damit ihre immanente Ambiguität enorm zugenommen haben, sinnvollerweise Alternativen ohne Management gesucht, um Unternehmen zu führen statt zu leiten.
Der Umgang mit diesem Phänomen als Berater vieler Firmen, die sich im Umbruch befanden, hat mich früher schon gelehrt, Ambiguitäten besser auszuhalten anstatt aufzulösen, und das hilft enorm. Sowohl dem jeweiligen Unternehmen als auch mir selbst.
Auch privat kann ich das besser als früher. Der Volksmund sagt dazu „gelassener werden“. Sie wissen ja, es gibt gute und schlechte Tage. Früher allerdings wollte ich mich damit nicht abfinden. Angesichts der endlichen Zahl von Tagen, die uns hienieden beschieden sind, erschien mir der Verlust eines Tages durch seine zufällige Misslungenheit nur schwer hinnehmbar. Im Ergebnis machten mich solche schlechten, blöden, gebrauchten Tage so richtig fertig. Ich litt, war unzufrieden und unglücklich, denn ich wollte doch lieber eine gute Zeit haben.
Heute gibt es noch genauso viele schlechte Tage wie damals. Aber ich bewerte den Moment nicht mehr so hoch. Ich weiß ja, dass es wieder gute Tage geben wird und lasse das Gefühl nicht zu, das mich ins Bodenlose fallen und verzweifeln lässt, weil etwas schiefgegangen ist. Das Leben ist eben ambig und ich kann ja nicht wissen, was das Gute ist, das gerade im Schlechten steckt.
Ich versuche also einen Schritt zurückzutreten, mich vom Moment zu distanzieren und auszuhalten, dass ich gerade keine eindeutige Lösung habe, dass ich nicht weiß, wie ich es interpretieren soll, und dass das alles jetzt viel heißen kann oder auch nichts. Und dieses Denken bringt mich nach meiner Erfahrung erstaunlich schnell wieder in die Spur.
Ja, ich wage sogar die These, dass das Aushalten von Mehrdeutigkeit – ohne beliebig zu sein – eine Voraussetzung für Fortschritt ist. Fortschritt in Wirtschaft und Gesellschaft und auch persönliche Weiterentwicklung.
Anders gesagt: Gerade jetzt, da wir allerorten und immer häufiger mit großen Herausforderungen konfrontiert sind, die mit den Mitteln moderner Medien ja auch erbittert und kontrovers diskutiert werden, sollten wir uns dazu ermahnen, uns gerade NICHT eindeutig zu positionieren. Gerade NICHT zu versuchen alle Geschehnisse unserer Zeit schlüssig zu erklären. Unsere meinungsbildenden Akteure in Politik und Medien sollten gerade jetzt dem Impuls widerstehen, letztgültige Deutungsversuche der Realität abzuliefern.
Warum? Weil die Gesellschaft ambig ist. Und weil der Versuch, sie eindeutig zu machen, in Spaltung resultiert!
Es gibt nicht den einen Grund, warum unsere Nationalelf bei der Weltmeisterschaft in Russland allzu früh rausgeflogen ist – die Debatte um Mesut Özil war es nicht. Es gibt nicht die eine Erklärung für die derzeit steigenden Temperaturen des Weltklimas – der deutsche Dieselfahrer ist es nicht. Es gibt nicht die eine Interpretation des Korans – diejenige, die das Töten von Homosexuellen und Ungläubigen vorsieht, ist es nicht. Und es gibt auch nicht die eine Lösung der so genannten Flüchtlingskrise. Keine der Parteien hat sie!
Hetze oder Hetze?
Mir geht es noch gar nicht um Versöhnung, also ums Überwinden von Gräben zwischen den Menschen, sondern darum, dass wir erstmal aufhören sollten überhaupt Gräben zu graben. Derzeit gibt es viele politische Debatten, die den Charakter haben, Meinungen regelrecht zu zentrifugieren, also weder das eine noch das andere zuzulassen.
Betrachten Sie nur die heftige Debatte rund um das Tötungsdelikt in Chemnitz, mutmaßlich verübt von jungen Einwanderern, die im Rahmen der Flüchtlingskrise nach Deutschland kamen. Die Chemnitzer Bürger gingen am Tag nach der Tat sehr aufgewühlt und in großer Zahl auf die Straße. Nicht alle Demonstranten benahmen sich dabei gleich und nicht allen ging es gleich. Einige waren sehr wütend, andere sehr betroffen und traurig. Die meisten gingen laut Augenzeugenberichten einfach schweigend durch die Stadt bis zum Tatort, wo Kerzen aufgestellt wurden.
Es gab aber auch andere, die provozierende Parolen skandierten und es gab auch feindliche Übergriffe gegenüber fremdländisch aussehenden Passanten. Was genau vorgefallen ist, darüber kursieren unterschiedliche Berichte und Deutungen, die Beweislage ist zwei Wochen danach noch immer unklar.
Und anstatt nun diese Unklarheit, diese Vielgestaltigkeit der Reaktionen, diese Mehrdeutigkeit der Ereignisse auszuhalten, sahen sich etliche Politiker und Journalisten bis hinauf zur Kanzlerin und ihrem Regierungssprecher dazu berufen, eine eindeutige Definition der Ereignisse herauszugeben. Die Rede war von „Hetzjagden“. Damit wurde ausgedrückt, dass die Chemnitzer Bevölkerung Ausländer durch die Straßen jage.
Mir geht es nicht darum, irgendjemandem Recht zu geben oder zu widersprechen. Was derzeit gemeinhin als Hass verurteilt wird, ist ja zu aller erst die Artikulation einer Gefühlslage. Ich finde es nicht in Ordnung, jemandem vorzuwerfen ein bestimmtes Gefühl zu haben. Ganz deutlich: Wir sollten aufhören damit, uns in unserer Gesellschaft gegenseitig bestimmte Gefühle vorzuwerfen!
Es geht vielmehr um die Form der Äußerung von Gefühlslagen. Da gibt es akzeptable und zivilisierte sowie weniger zivilisierte bis hin zu justiziablen Formen. Hier kann es berechtigte Vorwürfe geben. Aber es sollte eben auch keine pauschalen Verurteilungen geben, schon gar nicht die Verurteilung ganzer Gruppen wie Flüchtlinge, Chemnitzer, Migranten, Sachsen – und erst recht nicht auf puren Verdacht hin.
Denn das Resultat solcher Aussagen, die eine eindeutige Deutung der Wirklichkeit liefern wollen, ist immer Spaltung. Lagerbildung: Bist du ein Rechter oder ein Linker? Ausländerfeind oder guter Mensch? Klimaleugner oder Klimaschützer? Mörder oder Veganer? Gab es Hetzjagden oder gab es keine? Entscheide dich! Ich stehe hier, auf der Seite der Guten! Und damit steht fest, dass du einer von den Schlechten bist, denn du stehst ja nicht auf meiner Seite! Ich positioniere mich – und damit hast du auch eine Position, nämlich in der falschen Ecke.
Wir konnten ja live miterleben, was das Resultat dieser Positionierungen ist: Sofort nach der Verurteilung der Chemnitzer, Hetzjagden auf Ausländer zu veranstalten, wurde von vielen Menschen ganz Chemnitz, ja ganz Sachsen als ausländerfeindlich, als rechtsradikal, als brauner Sumpf wahrgenommen, ja es gab sogar Idioten unter den Journalisten und Politikern, die öffentlich hirnverbrannte Dinge forderten, wie die Sachsen aus der Bundesrepublik Deutschland auszuschließen.
Das machte viele Chemnitzer und viele Sachsen erst recht wütend. Und sofort am nächsten Tag nach dem verheerenden Medienecho reisten außerdem Linksradikale und Rechtsradikale aus dem ganzen Land in Chemnitz an, um Randale zu machen. Auch tausende Kameras waren vor Ort und dann wurden tatsächlich linke und rechte Extrempositionen in Arten und Weisen ausgedrückt, die jenseits des Akzeptablen liegen. Es gab obendrein jede Menge hässlicher Straftaten.
Alle sprachen von »vermummten Antifa-Chaoten« und den »Hitlergruß ausführenden Neonazis« – und von dem ursächlichen schlimmen Ereignis, nämlich dem Tötungsdelikt, dessen Ursachen und Folgen, sprach keiner mehr.
Ich glaube, das alles hätte nicht sein müssen. Ohne die nach Aufmerksamkeit heischenden, Öl ins Feuer gießenden, eindeutig Position beziehenden, von Hetzjagdenschwadronierenden Politiker, Journalisten und sonstigen Influencern wäre die Stimmung nicht so aufgeheizt gewesen und dann hätte es den üblen Aufmarsch der Extremisten in Chemnitz vielleicht gar nicht gegeben. Wir können wohl in jedem Fall froh sein, dass dieser medial angeheizte Konflikt der radikalen Lager bislang noch glimpflich ausgegangen ist.
Die Kunst der Indogmatik
Warum tun wir uns nur so schwer damit, eine unklare Nachrichtenlage einfach mal auszuhalten? Warum ist es gerade für führende Köpfe in Politik und Medien derzeit so schwer einfach mal zu sagen: Wir wissen nicht genau, was vorgefallen ist. Punkt.
Warum sind wir alle, nicht nur Politiker und Journalisten, so wenig gelassen? Warum halten wir Ambiguität so schlecht aus? Warum nehmen wir jede Meldung als Anlass, uns auf eine bestimmte Deutung festzulegen? Also ein Dogma zu errichten?
Wer sich dogmatisierend auf eine bestimmte Eindeutigkeit zurückzieht, provoziert damit ja, dass der andere mit seiner Gegenmeinung das genauso tut. Und schon stehen sich unversöhnliche Gegner einander zähnefletschend gegenüber. Ich halte diese übertriebene Lagerbildung für unnötig und letztlich fortschrittshemmend. Gegner können nicht gemeinsam an etwas arbeiten, schon gar nicht gemeinsam die Zukunft gestalten.
Ich hoffe ganz ehrlich gesagt nicht, dass in der Flüchtlingsdebatte eine Seite gewinnt. Ich hoffe eher auf den Prozess. Ich glaube, es ist möglich und in unserem politischen System bereits werksseitig eingebaut, dass sich Mehrheiten für bestimmte Einzelmaßnahmen eine nach der anderen lagerübergreifend herausbilden, so dass die extremen Forderungen wie »No Borders!« auf der einen Seite und »Abschotten!« auf der anderen Seite wieder an Gewicht und Einfluss verlieren.
Das wird aber nur funktionieren, wenn eine genügend große Anzahl von vernünftigen Menschen in Politik und Medien aufhört, den Extrempositionen Nahrung zu geben, indem sie ständig versuchen Anhänger dadurch zu gewinnen, dass sie in allen Fragen eindeutig Position beziehen.
Beziehen Sie doch auch mal keinen Standpunkt!
Wir brauchen wieder eine gesündere, eine größere Ambiguitätstoleranz. Und wohlgemerkt: Mit dieser Forderung rede ich keinesfalls Beliebigkeit und Gleichgültigkeit das Wort! Zwischen dem Aushalten von Mehrdeutigkeit und »Mir-doch-egal« besteht ein Unterschied wie zwischen dem sturen Kurshalten bei rauher See und gleichgültigem Sichtreibenlassen.
Ich möchte wieder mehr Differenzierung hören, wieder mehr Sowohl-als-auch statt dem ewigen Entweder-oder. Mehr »Das weiß ich nicht« statt »Es ist so!« Mehr Gelassenheit gegenüber gleichzeitig bestehenden Alternativen statt der Suche nach der einen Lösung. Mein Appell an Sie und an mich selbst ist: Fangen Sie ruhig schon mal damit an! Sie werden sehen, wie schwer das ist, gerade bei emotionalen Sachlagen. Und auch, wenn es bei dieser Übung in fortgeschrittener Gelassenheit gar nicht darum geht, Menschen miteinander zu versöhnen – es könnte dennoch zur Versöhnung beitragen.
Lieber Markus Söder
So und damit sind wir zwangsläufig auch wieder bei den Volksparteien. Ambiguität aushalten, das scheint mir auch eine in Vergessenheit geratene Grundtugend von Volksparteien zu sein. Wie sonst sollte eine große Partei in der Lage sein, Identifikationsmöglichkeiten für eine Vielzahl von unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen und Lebenswelten anzubieten?
Meine These: Die Protagonisten der großen Parteien beziehen aus Sorge um ihre Umfragewerte zu oft und zu eindeutig Stellung zu aktuellen Fragen unserer Zeit und zersplittern damit ihr Wahlvolk. Vor lauter Festlegungseifer in Einzelfragen vernachlässigen sie dabei, ihre Prinzipien und Beweggründe deutlich zu machen.
Das gilt auch für die CSU, auch wenn sie nur eine Regionalpartei ist. Auch wenn ich nie ein Fan war und Sie vielleicht auch nicht: Lassen Sie uns freimütig anerkennen, dass es Franz Josef Strauß in den Sechziger, Siebziger und Achtziger Jahren wie kein zweiter beherrschte, einem breiten Spektrum von Bürgern ein attraktives politisches Angebot zu machen, von der traditionell orientierten Landbevölkerung bis zur hochgebildeten urbanen Wertschöpfungselite.
Vielleicht war es damals ja auch einfacher. Aber klar ist: Die politischen Führer der CSU von heute schaffen das nicht mehr.
Darum schreibe ich jetzt mal wieder einen Brief. Ich könnte darüber vielen Politikern schreiben, aber ich schreibe nun einfach mal dem neuen Vorsitzenden der CSU, dem Markus Söder. Vielleicht hat er das mit der Ambiguität einfach noch nicht verstanden …
Die nächste Ausgabe von »Vollmers Waschtag« erscheint spätestens in einem Monat. Wenn Sie über das Erscheinen informiert werden möchten, so melden Sie sich bitte hier unten mit Ihrer E-Mail Adresse zu der Benachrichtigungsliste an – Sie erhalten dann bei jeder Ausgabe einen kurzen Hinweis.