Als ich hinter der alten Dame an der Kasse stand
Ich habe heute Freunde zu Gast. Selbstverständlich gibt es dann auch etwas zu essen. Die Stimmung könnte sonst latent ungesellig werden, nehme ich an. Deshalb habe ich mir ein ausgesprochen geselliges Essen anzubieten vorgenommen: Fondue. Ich präferiere dabei die französische Variante, bei der das dünn geschnittene Fleisch in einer Brühe gegart wird. Die Brühe könnte ich selbst machen, aber ich habe mich entschieden, einfach fertigen Fond zu kaufen, und zwar im kleinen Supermarkt um die Ecke.
Vor mir an der Kasse steht eine mir freundlich zuzwinkernde alte Dame mit gepflegten weißen Haaren, schon etwas gebeugt und mit ein wenig krummen Fingern. Sie legt ihre bescheidenen Einkäufe auf das Kassenband. Darunter ein Paket mit vier Rollen Küchentüchern – was mich an meinen letzten »Waschtag« erinnert, in dem Küchentücher eine Rolle spielten und den Sie hier nachlesen können, wenn Sie ihn verpasst haben.
Die Dame ist an der Reihe und ich überhöre nicht, wie sie beim Bezahlen jammert. Über die hohen Preise und das viele Geld und dass schon wieder alles teurer geworden ist.
Ich schätzte, dass die Rente der Dame knapp ist und versuche mir vorzustellen, wie sich das anfühlen muss, wenn über die Jahre der finanzielle Aufwand für den häuslichen Bedarf spürbar schneller wächst als die Rente.
Die Dame lächelt der Kassiererin dennoch freundlich zu und reicht ihr einen Geldschein. Ich schaue zu, wie der Geldschein die Besitzerin wechselt und im Gegenzug ein paar Münzen in die Geldbörse der alten Dame wandern. Eine ganz normale Transaktion, wie sie millionenfach jeden Tag passiert. Und ich frage mich: Weiß die Dame eigentlich, warum das alles immer teurer wird? Oder anders gefragt: Weiß sie, wofür sie gerade eigentlich bezahlt hat?
Der sozialistische Rucksack
Ja, ja, sie hat für die Küchenrolle bezahlt, unter anderem. Aber nein, das ist nicht die ganze Wahrheit. Das Viererpack Küchenrollen hat einen Euro und 55 Cent gekostet. Wenn Sie diesen Betrag zerlegen in die verschiedenen Bestandteile, dann kommt ein unglaublich kompliziertes Sammelsurium von Teilpreisen dabei heraus, die zum Teil voneinander abhängen und die ein Abbild unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems sind.
Da sind die Rohstoffe, selbstverständlich. Und dahinter eine Rohstoffkette, an der mehrere Unternehmen beteiligt sind: Wald- und Forstwirtschaft, Zellstoffproduktion, Logistik, Maschinenbau … All diese Lieferanten und der Küchenrollenhersteller selbst haben Mitarbeiter, Maschinen, Gebäude und all das sind Ergebnisse von Investitionen, die wiederum Finanzierungskosten verursacht haben. Die Mitarbeiter beziehen Gehälter in bestimmter Höhe, der Standort, die Anlagen, die Gemeinkosten und so weiter sind allesamt Resultate unternehmerischer Entscheidungen genauso wie die Handelsspanne des Supermarkts. Ein gewisser Anteil des Preises der Küchenrollen ist also vom Unternehmer beeinflussbar. Wirtschaftet er gut, so ist dieser Preisanteil niedrig und die Küchenrollen darum ein wettbewerbsfähiges und profitables Produkt. Ich wette, die alte Dame hat sich die preisgünstigsten Küchenrollen herausgesucht.
Aber, und hier liegt nun der Hase im Pfeffer, ein großer Teil des Ladenpreises, den die alte Dame für die Küchenrollen bezahlt hat, entzieht sich dem Einfluss des Unternehmers. Denn er ist gar nicht Teil des marktwirtschaftlichen Systems.
Da steckt nämlich beispielsweise auch die Abgabe für die Industrie- und Handelskammer drin. Das Unternehmen muss diese Abgabe bezahlen, ob es will oder nicht. Es handelt sich insofern um eine in der Höhe unbeeinflussbare Zwangsabgabe. Dabei ist völlig unerheblich, ob das Unternehmen Leistungen von der IHK bezieht, also irgendetwas von dem Leistungsangebot der IHK wahrnimmt.
Die IHK übernimmt zum Teil hoheitliche und für sie allein reservierte Staatsaufgaben, die somit dem Markt entzogen sind. Dazu gehört zum Beispiel die Organisation der beruflichen Bildung für eine Liste von Berufen, das Führen von Registern, das Ausstellen von Ursprungszeugnissen, die Bestellung von Sachverständigen und so weiter. Diese Aufgaben könnten auch vom Staat durch spezielle Behörden und somit aus Steuermitteln erfüllt werden. So aber werden sie eben aus den IHK-Abgaben finanziert.
Soweit so gut. Aber darüber hinaus bietet die IHK noch eine Menge weiterer Leistungen an: Die Begleitung von Unternehmensgründungen etwa, die Bündelung von Unternehmensinteressen gegenüber der Politik, die Auskunft bei Rechts- und Steuerfragen oder die Beratung bei Auslandsgeschäften. Das alles könnten genauso gut private Firmen anbieten. Die IHK weitet ihr gebührenfinanziertes Angebot so auch in den freien Markt hinein aus, allerdings ohne sich dem Wettbewerb stellen zu müssen. Ihre Einnahmen und ihre Existenz sind schließlich gesetzlich garantiert. Und wird das Geld knapp, werden eben die Gebühren erhöht.
Das ist so ähnlich wie beim Angebot des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Finanziert durch eine Zwangsabgabe – was die Protagonisten selbstverständlich nicht gerne hören, was aber nunmal die Realität ist – verdrängen ARD, ZDF und Deutschlandfunk privatwirtschaftliche Anbieter aus dem Medienmarkt und weiten ihr Angebot über den Zeitverlauf immer weiter aus. Sie vermelden sogar stolz jedes Jahr ihren überlegenen „Marktanteil“ bei Nachrichtensendungen – und tun so, als ob sie Marktteilnehmer wären.
Auch der sogenannte Rundfunkbeitrag versteckt sich im Preis der Küchenrolle, denn Unternehmen müssen diese Abgabe bezahlen, weil Mitarbeiter während der Arbeit über das Internet SWR3 hören oder Kochsendungen schauen könnten. Könnten!
Ein Merkmal dieser Abgaben ist, dass sie anfallen, ob das Angebot genutzt wird oder nicht. Ein weiteres Merkmal ist, dass sie erfahrungsgemäß über die Zeit immer weiter steigen. Ihr Anteil wird immer größer, er wächst, weil er wachsen will. Und so wird aus einer Symbiose von Privatwirtschaft und Staat mit der Zeit eine zunehmend parasitäre Lebensgemeinschaft, um eine Analogie aus der Biologie zu bemühen: Hinter dem Rücken der Öffentlichkeit bildet sich metastasierend ein wettbewerbsbehinderndes Geschwulst, das die Marktwirtschaft zunehmend nicht unterstützt, sondern belastet, weil es parasitär von dessen Wertschöpfung lebt. Halbstaatliche Behörden wie die IHK oder die Öffentlich-rechtlichen Sender mutieren dann nach und nach zu Pensionskassen mit angehängtem Servicebetrieb zur Existenzrechtfertigung.
Das ist doch eigentlich verrückt. Die das alles bezahlenden Bürger schütteln den Kopf, weil alles immer teurer wird. Per üblichem Reflex denken sie zuerst an die gemeinen Unternehmen, die ach so neoliberalen Konzerne mit ihren weißbehemdeten Managern, die sich die Taschen vollstopfen, während die alte Dame an der Supermarktkasse in ihrem Portemonnaie kramen muss, um ihre Küchenrollen zu bezahlen.
Und ich schüttle den Kopf, weil die Öffentlichkeit nicht draufschaut, was da in Wahrheit und tatsächlich passiert. Warum akzeptieren wir stillschweigend diesen großen und immer größer werdenden Teil unserer Ausgaben als Konsumenten, der nicht in den marktwirtschaftlichen, sondern in den sozialistischen Teil der Gesellschaft fließt?
Und damit meine ich alle Steuern und Abgaben, die in jedem Produktpreis stecken. Ich habe eine Anfrage an den Präsidenten des Statistischen Bundesamtes geschickt (hier nachlesen), um zu erfragen, wie hoch dieser Anteil in Wirklichkeit ist, denn niemand weiß so genau, wie groß der sozialistische Rucksack ist, den wir uns da zu tragen leisten. Dabei sollte uns das doch interessieren! Denn die alte Dame an der Supermarktkasse und mit ihr sehr viele Leute können es sich eigentlich nicht mehr leisten.
Das Gute im Schlechten
So, und damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich will die IHKs und die Rundfunksender und den Sozialstaat und das Statistische Bundesamt und so weiter gar nicht abschaffen. Ich vertraue auf das Grundgesetz wie jeder andere vernünftige Mensch und ich halte die soziale Marktwirtschaft für eine der besten deutschen Ideen seit Jahrhunderten. Mir geht es alleine um das Maß. Und ich meckere gar nicht, und ich wutbürgere erst recht nicht, nein, das wäre wenig hilfreich, ich wundere mich vielmehr, dass wir uns das gefallen lassen.
Dass der Steuerzahler Brücken finanzieren muss, die nicht an das Straßennetz angeschlossen werden, dass Berufspolitiker einen fetten A8 als Dienstwagen fahren müssen, dass das Parlament viel zu groß ist und so weiter, das sind alles eigentlich kleine Beträge und wir haben uns ja so halb daran gewöhnt. Das ist die übliche Steuerverschwendung und der Bund der Steuerzahler mahnt da vergebens Jahr um Jahr, ein fast schon folkloristisches Ritual. Aber völlig außen vor bleiben dabei diese wuchernden Institutionen, die unmerklich ins Fleisch des Marktes hineinwachsen. Was sie an Wertschöpfung abzapfen und verschlingen, summiert sich auf und lässt ihre Zellen irgendwann von nützlich auf schädlich umspringen, wenn ihnen das gesunde Maß abhanden kommt.
Dabei möchte ich betonen, dass ich all die Experten in den Ämtern und Behörden, all die Politiker und Ministeriumsmitarbeiter, all die Angestellten des Öffentlichen Diensts, all die Journalisten bei ARD & Co. persönlich von der Kritik ausnehme! Sie alle machen überwiegend gute Arbeit, soweit ich das überhaupt beurteilen kann. Sie alle sind von ihrer Persönlichkeit her keineswegs Schmarotzer oder leben parasitär. Sie bezahlen selbst Steuern und Abgaben und sind selbst Konsumenten. Sie alle mögen voller Leidenschaft in ihrem Job aufgehen und ihr Bestes geben. Und ihre Arbeit ist richtig und wichtig. Aber es kann kein gutes Leben im schlechten geben – sie arbeiten dennoch in einem zunehmend parasitären System.
Ich bin sicher, dass sich viele, die im öffentlichen bzw. staatlichen Sektor arbeiten, sich darüber Gedanken machen, in welchem System sie arbeiten und wie die Wirkung des Systems ist. Selbstverständlich werden all diese Menschen nicht da sitzen, über ihre Traumgehälter feixen und sich überlegen, wie sie das gebührenzahlende Volk noch besser über den Tisch ziehen können. Ich weigere mich, das anzunehmen.
Ob marktwirtschaftlicher oder sozialistischer Sektor: Wir leben zusammen in einer verflochtenen Gesellschaft und jeder muss seinen Teil dazu beitragen. Im Idealfall in Form einer voneinander abhängigen aber gleichzeitig voneinander profitierenden Symbiose unter gleichwertigen Partnern. Aber ich möchte klarstellen: Die Dame an der Supermarktkasse kann sich nicht aussuchen, die Fußballübertragungsrechte des ZDF und die Firmenauslandsberatung der IHK mitzubezahlen, sie ist dazu verdammt! Nichts von all den horrenden Kosten für den sozialistischen Rucksack dieser Gesellschaft hat sie in der Hand. Es wäre albern zu behaupten, sie könnte es durch ihre Wählerstimme verändern.
In der Schweiz könnte sie das vielleicht, aber im deutschen System der repräsentativen Parteiendemokratie eben nicht. Wir können die Bevölkerung nicht darüber abstimmen lassen, welche Leistungen staatlich-behördlich und welche Leistungen privatwirtschaftlich erbracht werden sollen. Und wir können offensichtlich das Wachstum des staatlich-sozialistischen Teils demokratisch nicht begrenzen. Die Behörden und Kammern, die Sender und Kassen, die Ministerien und Institute, die wachsen und wachsen, weil sie eben auch Systeme sind, die ganz natürlicherweise weiterexistieren und wachsen wollen.
Es scheint mir, als sei das Pendel zwischen Markt und Staat in den letzten Jahrzehnten weit in die Spielhälfte des Staats geschwungen. Im Fußball würde man sagen: Das Spiel hat sich gedreht, der Gegner drückt und wir müssten dringend mal wieder den Ball erobern.
Skin in the Game
Ich nehme das den Protagonisten des Staats wie gesagt nicht übel. Wenn die IHK Seminare zur Weiterbildung in der Abfallentsorgung anbieten will, fein, dann möge sie das tun. Wenn die Sender Fußball und Krimis und Orchester anbieten wollen, bestens, sehr gerne. Und so weiter. Aber dann bietet doch diese Leistungen wenigstens am Markt an und senkt die Pflicht- und Zwangsbeiträge dementsprechend!
Im Klartext: Wer kein Zeugnis anerkennen lässt, der sollte dafür auch nichts bezahlen müssen. Wer kein Fußball schauen will und an klassischer Musik nicht interessiert ist: Die sollen von den Kosten befreit werden, indem diese Leistungen von den eigentlichen Nutzern bezahlt werden: Pay-per-view oder ein abbestellbares Abo wie bei Netflix, Amazon oder Disney. Und wenn sich herausstellt, dass das Angebot am Markt nicht wettbewerbsfähig ist, dann muss es eben gestrichen werden und verschwinden, damit Platz frei wird für die, die es besser machen.
Wenn alleine der sozialistische Teil der Wirtschaft aufhören würde, Marktteilnehmer zu spielen, wenn er es unterlassen würde, von seinem privilegierten, zwangsfinanzierten Podest herunter den marktwirtschaftlichen Konkurrenten das Leben schwer zu machen, wenn er entweder sich auf seinen ursprünglichen staatlichen Auftrag zurückziehen würde oder mit Skin in the Game richtig und ernsthaft am Markt teilnehmen würde, dann aber mit Refinanzierung durch Erlöse – das würde uns allen gut tun und uns allen wieder etwas Luft lassen. Vor allem der Dame an der Supermarktkasse.
Das wäre doch wahrhaft solidarisch. Oder?
Gleich noch den offenen Brief an Georg Thiel, Präsident des Statistischen Bundesamts, lesen »
Die nächste Ausgabe von »Vollmers Waschtag« erscheint spätestens in zwei Monaten. Wenn Sie über das Erscheinen informiert werden möchten, so melden Sie sich bitte hier unten mit Ihrer E-Mail Adresse zu der Benachrichtigungsliste an – Sie erhalten dann bei jeder Ausgabe einen kurzen Hinweis.
Wolfgang R.
11. Februar 2020 at 08:19Das gleichnamige Buch von Nassim Taleb „Skin in the Game“ ist sehr lesenswert!
Alfred Reimann
13. Februar 2020 at 09:22Doch warum wuchern die staatlichen Institutionen?
Weil sie -sichere- Einkommensplätze schaffen, völlig unabhängig von der Sorgfalt und Achtsamkeit der Handlungen und Qualität und Quantität der erbrachten Leistungen. Dafür bleibt zwar in Hierarchien oft nur die Handlungswahl des geringsten Übels, mit dem geringsten Verlust an Sinn, Wohlbefinden und Zufriedenheit. Doch dieses Leid akzeptieren viele, weil ihnen hungrige Kinder und unbezahlte Mieten noch mehr Leid erwarten lassen.
Wir müssen das Soziale, die Grundversorgung durch Grundeinkommen, von der Wiege bis zur Bahre, unbedingt von der erbrachten Leistung und deren erfolgreichen Verkauf am Markt trennen. Ein staatl. BGE kann durch die gerechtere Verteilung der Einnahmen aus der Natur- u. Kulturallmende, sowie einer CO2-Umlage leicht finanziert werden.
Solange des kein staatliches Grundeinkommen gibt, werden die sozialen Systeme weiter wuchern zu Lasten der Gesellschaft, besonders aber der Mitarbeiter. Wollen wir uns diesen Unsinn wirklich weiter antun?