Improvisation für mehr Innovation

Lars Vollmer

Die Standardfrage auf Branchenkongressen: »Und was machen Sie?« Sie bezieht sich meist weniger auf Ihre Tätigkeiten oder auf ein aktuelles Projekt, sondern fast immer auf Ihre Position im Unternehmen. Der Frager will wissen, wer Sie sind, und das erkennt er daran, welche Stelle Sie innehaben. Aufgabenbereich, Position, Stelle – damit werden Sie ganz selbstverständlich identifiziert. Sie sind sozusagen Ihre Stelle, Sie sind Kundenbetreuer im Versicherungsaußendienst, Erzieherin in einer Krippengruppe oder Head of Marketing & Sales.

Diese Stelle, die schlussendlich nichts anderes ist als ein Amt, wurde Ihnen von einem Chef verliehen. Chef ist selbstverständlich auch ein Amt. Ein Amt, das wiederum von einem Vorgesetzten zugewiesen wurde. Und so weiter und so fort, bis zu den Eigentümern. Jeder Amtsinhaber hat dadurch eine feste Aufgabe, feste Zuständigkeiten. Was aber wird in Organisationen aus den Aufgaben, für die niemand zuständig ist? Die in keiner Stellenbeschreibung festgehalten und nicht ausdrücklich vom Chef aufgegeben wurden?

Hier spielt die Musik!

Tatsächlich erfordert jede Organisation, dass getan wird, was zu tun ist – insbesondere die Dinge, für die niemand zuständig ist. Und das sind in der nicht idealen Welt, in der wir leben, jede Menge Dinge. Sie nehmen sogar zu, denn die Welt wird nicht einfacher, sondern komplexer – was nichts anderes bedeutet, als dass die Vielfalt an Überraschungen größer wird. Und Überraschungen konnte derjenige, der das Organigramm und die Stellenbeschreibungen Ihrer hierarchischen Organisation gebastelt hat, nun wirklich nicht vorhersehen – sonst wären es schließlich keine Überraschungen.

Wenn Menschen im Privatleben zusammenarbeiten und niemand Zuständigkeiten und Ämter verteilt, organisieren sie sich spontan – den Umständen und Überraschungen entsprechend. Der Einzelne übernimmt also eine Aufgabe, die gerade anfällt, für die er sich in diesem Moment am besten befähigt glaubt oder durch die er die anderen sinnvoll ergänzen kann. Wenn Sie Ämterlosigkeit in Perfektion erleben möchten, dann besuchen Sie doch beispielsweise mal einen Auftritt einer Jazzband. Denn Jazzmusiker sind die natürlichen Meister darin, sich zu organisieren, ohne dass es jemanden gibt, dessen Amt es ist, allen zu sagen, was sie tun sollen.

Freudige Gesichter

Hier spielt Passung die Hauptrolle: Alle Musiker arbeiten hart und jederzeit daran, miteinander zu improvisieren. Mal spielt einer solo, mal Begleitung, mal Rhythmus, mal Harmonie. Es gibt unterschiedliche Funktionen, die aus dem Moment heraus entstehen und die ständig wechseln. Manchmal schon nach vier Takten. Richtig gute Jazzmusiker sind nicht diejenigen, die besonders gut spielen, sondern diejenigen, die besonders gut hören, was die anderen tun. Manch passabler Jazzmusiker bemängelt in der Session: »Ich hör mich nicht!« Die wirklich guten Jazzer hören immer alles.

Schauen Sie sich die Gesichter der Musiker beim Spielen an. Die meisten schauen konzentriert irgendwohin. Manche schließen die Augen, manche schauen auf den Boden, andere starren ins Leere. Und dann huscht ihnen plötzlich ein Lächeln übers Gesicht: Er freut sich. Aber nicht darüber, dass er gerade so eine tolle Idee hatte, sondern er lächelt, weil er anderer gerade eine neue Figur angeboten und ein dritter sie virtuos aufgenommen und weitergesponnen hat. Eben noch plätscherten die Harmonien vor sich hin, plötzlich entstand etwas Magisches.

Magie – ganz ohne Hokuspokus

Aber nun fragen Sie zurecht: »Was hat das denn mit meiner Organisation zu tun?« Ganz einfach: Jedes Amt ist mit Amtsgewalt verbunden. Darin ist der Amtsinhaber Chef, er hat die formale Macht. Und formale Macht ist in Mannschaften grundsätzlich kontraproduktiv. Plötzlich wird entschieden, was der Chef sagt. Lächelt der Chef, wenn ich das sage oder nicht? Schüttelt er den Kopf? Der Chef nimmt mit den kleinsten Regungen Einfluss und ist die dominante Referenz.

So wie Sie nicht vom Chef erwarten dürfen, dass er immer die beste Idee für alle Vorhaben hat und deshalb immer führt, so dürfen Sie nicht vom Marketingmanager erwarten, dass der immer die beste Idee für eine Kampagne hat, oder vom Produktionsleiter, dass er die besten Einfälle für die Neuorganisation der Produktionsstraße hat.

In einem sich selbst organisierenden Team kommen die besten Ideen zur Wirkung. Und ein solches funktioniert nicht mit festen Zuständigkeiten und Ämtern, sondern mit Engagement und Verantwortung. Meist entsteht so große Kunst und Innovation.

 

MIR IST GRAD‘ SO
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  • Fabian Schünke
    24. November 2017 at 16:38

    Echt cool auf den Punkt gebracht!

    Als Jazz-Liebhaber freue ich mich besonders über diesen Beitrag. Ich habe auch immer wieder darüber nachgedacht, welche Parallelen es zur Wirtschaft und zu sozialen Systemen gibt. Es dann aber in einem Beitrag auf den Punkt zu bringen ist natürlich immer etwas anderes – Chapeau.

    Beim Lesen ist mir Derek Paravicini und sein Lehrer Adam Ockelford eingefallen.

    Hier die Story: https://youtu.be/jMBdQW2LLxw

    Und zum Abschluss noch einer dieser Jazz Impro Momente von Derek: https://youtu.be/l5bS7dmkFFU

    Für mich beweist es Folgendes:
    Wirtschaft oder Musik – manchmal muss es eben “WER” und nicht “WIE” heißen (bzw. Man kann Talent nicht aufschreiben)

    Und

    Führung durch Haltung ist unschlagbar

  • christoph schmitt
    24. November 2017 at 17:13

    ganz ausgezeichnet!

  • Hans Habegger
    29. November 2017 at 08:30

    Wenn ich ein Team isoliert betrachte, trifft das alles zu. Wenn ich jedoch innerhalb einer Organisation mehrere Teams habe wird es komplexer und vll nicht durch Selbstorganisation lösbar.

    Ein klassisches Orchester funktioniert nach genauen Vorgaben, eine Rockband zum größten Teil auch.

    Wenn diese drei Teams auf ein gemeinsames Werk hinarbeiten sollen, ist Selbstorganisation am Ende.

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