Seien Sie sich da nicht so sicher!

Lars Vollmer

Ausbrechende Schafe gibt es immer. Und wenn Schafe aus der Herde ausbrechen, dann schickt der Hirte seine Hunde los. Das ist seit Urzeiten so. Die Hirtenhunde hetzen und stellen und packen die Individualistenschafe mit ihren scharfen Zähnen und schleifen sie blutend wieder zurück zur Herde der Kollektivschafe. Das war nun mal so. Das ist nun mal so.

Aber wenn es ein Schaf erwischt, das ich persönlich kenne, dann macht mich das wütend. Zum Beispiel bin ich wütend, weil eine gute Freundin von früher ‒ die ich wiedersah, weil ich mich einmal im Jahr mit alten Freunden in Hannover treffe ‒ derzeit von den Hirtenhunden gehetzt und in Kürze in deren Fängen bluten wird. Es macht mich sehr, sehr wütend. Vor allem, weil niemand ihr helfen kann.

Initiator und Gastgeber des jährlichen Treffens ist ein Ehepaar, das seit etwa zehn Jahren für verschiedene Unternehmen in der City of London arbeitet. Die beiden nutzen die Räumlichkeiten von anderen, um uns alle im Advent in Deutschland einzuladen, uns wiederzusehen und gemeinsam beim Schrottwichteln eine Gaudi zu haben.

Die Atmosphäre ist dort immer großartig. Wir sind miteinander locker und sehr fröhlich. Aber wie solche Runden eben sind: Jeder hat so sein Tagesproblemchen. Die eine hat ein Zipperlein, aber wir sind ja auch keine 30 mehr. Der andere hat eine Ehekrise, aber das kommt in den besten Familien vor, nicht wahr? Und meine gute Freundin hat Brexit …

Sie bleiben gefälligst da!

Sie ist vor etwa zwei Jahren auf die Insel gezogen. Jetzt steht der formale Wohnungswechsel an. Das Problem: Sie besitzt Anteile an einer kleinen Firma in Deutschland. Warum das ein Problem ist? Weil das Vereinigte Königreich (voraussichtlich) ab dem 29.3.2019 nicht mehr Teil der Europäischen Union sein wird. Und dann wird der deutsche Staat darauf bestehen, dass meine Freundin auf einen Schlag auf den kompletten Firmenwert Einkommensteuer bezahlt. Als hätte sie die Firma verkauft.

Hier geht es nicht um hohe Millionenbeträge, aber es ist trotzdem so viel Geld, das hat sie nicht mal eben so. Sie findet keine Lösung, so gut wie sicher muss sie ihren Anteil an der Firma verkaufen, um die Steuern bezahlen zu können. Der Staat sagt also auf gut Deutsch: Wenn du nach England ziehst, nehmen wir dir die Firma weg!

Das glauben Sie nicht? Dann haben Sie noch nie etwas von der Wegzugsteuer gehört.

Sie ist erstaunlich unbekannt. Jedenfalls wird nicht viel darüber geredet oder geschrieben. Wenn ein in Deutschland Steuerpflichtiger auswandert, also seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt, dann tut der Fiskus so, als hätte zum Zeitpunkt des Wohnsitzwechsels eine Veräußerung der Vermögenswerte wie Unternehmensbeteiligungen oder Wertpapiere oder Immobilien stattgefunden – und besteuert den Veräußerungsgewinn, obwohl gar kein Verkauf stattgefunden hat: Besteuert wird also der momentane Verkehrswert abzüglich des Anschaffungswerts mit dem jeweiligen progressiven Einkommensteuersatz – und das bedeutet fast immer: höchstmöglicher Steuersatz.

Dadurch wird das Wegziehen vor allem für Leute mit größeren Vermögen extrem teuer, zumal sich die Einkommensteuersätze in Deutschland bekanntermaßen gewaschen haben: Derzeit liegt der Spitzensteuersatz bei 42 % zuzüglich Solidaritätszuschlag und wird bereits bei einem Jahreseinkommen oberhalb von 55.961 Euro fällig. Und für jeden Euro Einkommen, der in einem Jahr oberhalb von 250.731 Euro liegt, gilt sogar der sogenannte Reichensteuersatz von 45 % plus Soli. Bei größeren Vermögen, und um die geht es meistens bei der Wegzugsteuer, können Sie also über den Daumen gepeilt mit Fug und Recht sagen: Die Hälfte ist weg.

Ausreisewillige zur Kasse, bitte!

Der am Unternehmen beteiligte Sohn eines Unternehmers, der nach Kanada ziehen will, um die neue kanadische Tochtergesellschaft dort aufzubauen, müsste beispielsweise durch seine Gesellschaftsbeteiligung auf einen Schlag Millionen an den Staat überweisen, Millionen, die er natürlich gar nicht flüssig hat. Er müsste widersinnigerweise einen Teil des Unternehmens verkaufen, um das Geld für den Staat aufzutreiben. Also lässt er es doch lieber bleiben.

Oder nehmen Sie lieber einen ganz normalen Durchschnittsverdiener, der so vorausschauend war, neben der wackeligen Rente über Jahrzehnte ein kleines Wertpapierdepot aufzubauen, und der jetzt zum Lebensabend mit seiner Frau in sein Lieblingsland Chile ziehen will. Ist sehr schön dort. Er dachte, das Depot gehöre ihm und er könne es komplett mitnehmen, er hatte es ja schließlich aus bereits versteuertem Geld angelegt. Und er hatte es pfiffig angelegt! Aber der Staat will nun mal einen großen Anteil am erheblichen Wertzuwachs. Es geht um mehrere hunderttausend Euro. Und zwar im Moment des Wegzugs. Es liegt auf der Hand, dass der Mann gar nicht so viel Geld flüssig hat, er muss also einen großen Teil seiner Altersvorsorge verkaufen, davon zunächst Kapitalertragsteuer und Soli für die Gewinne entrichten und anschließend zur Sühne seiner Wegzugsteuerschuld den übrig gebliebenen Erlös ans Finanzamt überweisen, damit er mitsamt seinen neuen Geldsorgen wegziehen darf.

Der Europäische Gerichtshof untersagte 2004 Frankreich eine solche Wegzugbesteuerung innerhalb der EU anzuwenden, wohlgemerkt weil sie die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU behindert. Die EU-Kommission leitete deswegen auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein. Es ist also allseits bekannt, dass im Effekt das Gesetz die Bewegungsfreiheit der Menschen einschränkt. Es ist ein Zaun, eine virtuelle Mauer, schlicht und einfach errichtet, um es Menschen zu erschweren, in ein anderes Land zu gehen. Natürlich ist der Zaun nicht so hoch, unüberwindlich und schlimmstenfalls tödlich, wie die Mauer der DDR es war. Ausreisewillige können sich sozusagen mit der Wegzugsteuer freikaufen. Aber das Motiv und der Reflex sind exakt die gleichen.

Deutschland änderte auf das EuGH-Urteil hin die Wegzugsbesteuerung so ab, dass die Steuer bei einem Umzug in ein anderes Land innerhalb der EU zinslos gestundet wird, bis der Steuerpflichtige entweder wieder nach Deutschland zurückzieht oder das betreffende Wirtschaftsgut tatsächlich veräußert und dabei einen Gewinn erzielt. Für alle anderen Länder außerhalb der EU gilt die Steuer nach wie vor.

Geld oder Leben!

Diese Form des Zäunreflexes hat übrigens eine unrühmliche Tradition in Deutschland. 1931 wurde die Reichsfluchtsteuer mit der vierten Notverordnung des Reichspräsidenten eingeführt. Interessant ist dabei die hirtenhafte Begründung im Reichsgesetzblatt: „… zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens“ – Sicherung und Schutz, da ist es wieder, das Standardverkaufsargument des Staates für jede Einschränkung von Freiheit. Und im Umkehrschluss würde Ihnen vorgeworfen werden: Wenn Sie gegen diese Steuer sind, sind Sie auch gegen den inneren Frieden!

Im Kern ging es bei dem harten Tobak um das Verhindern von Kapitalflucht – womit der Staat den schlichten Vorgang kriminalisierend bezeichnet, wenn ein Mensch sein bereits versteuertes Privatvermögen beim Wegzug mitnehmen möchte. Im Deutschen Reich betraf die Reichsfluchtsteuer allerdings nur große Vermögen, die 200.000 Reichsmark überstiegen, was heute ungefähr einer Kaufkraft von 800.000 Euro entspräche, sowie die Jahreseinkommen von über 20.000 Reichsmark, was etwa das Zehnfache des damaligen Durchschnittsentgelts war. Ein Viertel von allen Vermögenswerten und vom Einkommen war beim Wegzug an den Staat zu überweisen. Die Nationalsozialisten veränderten nach der Machtübernahme die Parameter der Reichsfluchtsteuer so, dass sie vor allem dazu verwendet werden konnte, die aus dem Land fliehenden Juden möglichst vollständig zu enteignen. Also auszuplündern.

Übrigens: Die Schweiz erhebt keine Wegzugsteuer. Aber das nur für den Fall, Sie diskutierten mit jemandem, der meinte, eine Wegzugsteuer sei unerlässlich.

Meine Freundin jedenfalls überlegt gerade allen Ernstes, Wahlheimat, Job und das in London gefundene Lebensglück hinter sich zu lassen und wieder zurück nach Deutschland zu ziehen, einfach weil sonst mit einem Schlag die Hälfte ihres Vermögens weg wäre. Der Ertrag aus vielen Jahren ehrlicher Arbeit (voll versteuert!) wäre zunichte. Außerdem hängt an diesem Unternehmen eine Geschichte, sie ist mit viel Herzblut verbunden. So etwas zu verlieren, ist nur schwer zu ertragen.

So, und genau das ist es, was die Hirten wollen. Sie wollen die Menschen unter Kontrolle haben. Sie wollen verhindern dass Menschen einfach tun, was sie wollen, gehen, wohin sie wollen, frei sind. Sie wollen sie am liebsten mitsamt ihrem Vermögen einsperren. Und wenn es nicht ganz brutal mit einer physischen Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl geht, weil das gerade unpopulär ist, dann setzen die Hirten den Hebel eben beim finanziellen Vermögen an. Den Reichen Geld wegnehmen? Dafür finden sich immer Mehrheiten. Das hat auch nichts mit der aktuellen Regierung zu tun. Ob Nahles oder Kramp-Karrenbauer oder Habeck oder wer auch immer. „Merkel muss weg!“ hilft dagegen nicht. Wenn sie nicht so weit gehen möchten jemanden umzubringen, und das unterstelle ich keinem der Genannten, dann nimmt man den allzu Freien wenigstens das Geld weg.

Diesen Reflex werfe ich niemandem vor. Mehr noch, ich glaube, den Mitgliedern des Bundestages, die als Legislative für die Steuergesetze verantwortlich sind, liegt jede böse Absicht fern. Den Hirten Egozentrik bzw. eine böse Absicht vorzuwerfen, wäre kurzsichtig und unterkomplex.

Die im Nachhinein mit Blick auf die Ergebnisse leicht feststellbare und kritisierbare Dummheit ihres Handelns ist weniger ihren mangelhaften kognitiven Fähigkeiten geschuldet als vielmehr der immanenten Dummheit des Hirtensystems, in dem sie agieren. Auf die gute Absicht dabei kommt es dann letztlich aber auch nicht mehr an. Und warum nur erinnert mich die Wegzugsteuer trotz allem irgendwie an Schutzgelderpressung und an die Mafia?

Meine gute Freundin fühlt sich eigentlich als Deutsche. Sie mag England, sie mag vor allem die schrulligen Engländer. Diese Verrückten. Und sie lebt gerne dort. Aber Deutschland war immer ihre Heimat und sie konnte sich gut vorstellen, im Alter wieder zurückzukommen. Nur: Das wird ihr gerade madig gemacht. Wenn sie sich für das Leben in England entscheidet und der deutsche Staat ihr deshalb einen großen Teil ihres (finanziellen) Lebenswerks wegnimmt, dann wird sie wohl nie mehr zurückkehren.

Und natürlich, wenn sie sich anders entscheidet und doch wieder nach Deutschland zurückkehrt, dann würde sie für immer diesem Leben in London nachtrauern, das sie unfreiwillig aufgegeben hätte. Sie stand also an der Wand, hob die Hände und hörte eine drohende Stimme: Geld oder Leben!

So fühlte es sich für sie an. Und als sie mir das alles relativ nüchtern erzählte, spürte ich dieses Gefühl auch. Ich teile diesen Wunsch nach Freiheit und ich fühlte mich wie ein Schaf in der Herde, das zusieht, wie ein anderes Schaf ausbüxt. Wie ein Schaf, das ohnmächtig zusieht, wie die Hirtenhunde hinter dem ausbüxenden Schaf hinterherhetzen, und weiß, dass es keine Chance hat. Meine Freundin tat mir leid. Ich kann ihr nicht helfen.

Diese Wut.

Ich kann ihr nicht helfen.

Liebe Frau Beer

In Artikel 17 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht eigentlich: „Niemand darf willkürlich seines Eigentums beraubt werden.“ Das Wörtchen „eigentlich“ ist hier kein Füllwort. Denn selbstverständlich wird Ihnen in Wahrheit Ihr Eigentum weggenommen, und zwar dann, wenn Sie etwas tun, das Ihrem Staat nicht passt, Rechtstaatsprinzip hin oder her.

Ich finde, ganz persönlich, die Wegzugsteuer ist ein Affront gegen den Liberalismus und die individuelle Freiheit, aber was weiß ich schon.

Nun, ich könnte ja mal eine Liberale fragen … eine, die sich als Freidemokratin zwangsläufig mit der individuellen Freiheit auseinandergesetzt haben müsste, eine, die sich insbesondere mit der Europäischen Union auskennt, die im Fall von Wegzugbesteuerung und Brexit ja eine entscheidende Rolle spielt.

Also frage ich doch mal Nicola Beer, die Spitzenkandidatin der FDP für die anstehende Europawahl Ende Mai.

Ich schreibe ihr am besten einen offenen Brief…

Weiter zu Teil 2:
Offener Brief an Nicola Beer/a>

 


Die nächste Ausgabe von »Vollmers Waschtag« erscheint spätestens in einem Monat. Wenn Sie über das Erscheinen informiert werden möchten, so melden Sie sich bitte hier unten mit Ihrer E-Mail Adresse zu der Benachrichtigungsliste an – Sie erhalten dann bei jeder Ausgabe einen kurzen Hinweis.

 

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  • mw
    14. Februar 2019 at 07:32

    Lieber Lars Vollmer,
    worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Ich kann nicht wirklich verstehen, was sie da schreiben. Was Sie als „Wegzugssteuer“ bezeichnen ist einfach nur die Betseuerung des Wertzuwachses als Einkommen. Das ist nur recht und billig. Und es ist ein Entgegenkommen des Staates diese Besteuerung des Wertzuwachs solange zu stunden bis die beteiligung verkauft wird oder eben der Bürger die EU verläßt. Das hat rein gar nichts mit wegnahme von Eigentum zu tun, denn der Aufwand für die Beteiligung (aus versteuertem Einkommen) wird bei der Ermittlung des Wertzuwachses berücksichtigt. Ob die Dame denn nun nach Großbritannien, in die USa oder den Kongo zieht spielt dann gar keine Rolle, wenn das betreffende Land nicht in der EU ist. Die Schweiz als Beispiel zu nennen ist besonders unfair, denn dieses Land hat noch nie besonderen Wert auf Steuergerechtigkeit gelegt. Ich hoffe auch Sie kommen zu der Einsicht, daß diese besteuerung im Rahmen der Gerechtigkeit sinnvoll und erforderlich ist.

  • B
    14. Februar 2019 at 09:48

    Wenn der Wegzug nicht dauerhaft ist, könnte man ja auch überlegen, ob er erstmal für 5 – 10 Jahre ist. Wird das entsprechend beim FA angezeigt kann auch bei vorübergehender Wohnortverlegung ins nichteuropäische Ausland die Stundung dieser Zuwachsbesteuerung gewährt werden. 🙂

  • Sibylle
    14. Februar 2019 at 14:35

    Interessanter Hinweis!
    Bei dem derzeitigen Chaos in D überlegt sich bestimmt der eine oder andere die Rente nicht in D auszugeben.
    Ich auch, aber dass man es in D nur noch mit Halsabschneidern und Wegelagerern zu tun hat, habe ich zwar vermutet – dass es aber so schlimm ist …?!

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