Komplexität gilt nach wie vor als großes Schreckgespenst der Wirtschaft. Nachdem schon 2010 in der großen IBM CEO-Studie Komplexität als Problem Nr. 1 herausgearbeitet wurde, lassen sich auch noch 10 Jahre später zahlreiche Kongresse und Aufsätze aufspüren, in denen Satzfragmente auftauchen wie: »…werden wir unsere Komplexität in den nächsten Jahren deutlich senken müssen…« oder »…haben wir einen Plan zur Komplexitäts-Beherrschung aufgestellt…«

Warum die Annahme, man „müsse“ Komplexität senken oder einen Plan zu deren Beherrschung aufstellen Unsinn ist, versuche ich mal wieder mit meiner Lieblingsanalogie zu erklären: Fußball!

Fußball eignet sich aus vielen Gründen für derartige Gleichnisse: die Spielregeln sind leicht zu verstehen – bis auf Abseits. Die moderne Berichterstattung erlaubt eine unglaubliche Übersicht über fast alle Facetten des Spiels. Und alle 2 Jahre – wenn unsere Nationalmannschaft kickt – sind nahezu alle Bundesbürger im kollektiven Fußballrausch. Ein hoch emotionales Thema also – dankbar für den Autor.

Und das Fußballspiel – nicht nur das ganze Business drum herum – ist hochkomplex. Kontingent, unvorhersehbar, voll von Überraschungen, immer subjektiv, zwar beeinflussbar aber nie kontrollierbar oder beherrschbar. Wo sonst kann man den Unterschied zwischen ›Wissen‹ und ›Können‹ so eindrucksvoll und unmittelbar erleben? Und so eignet sich dieser Rasenballsport vortrefflich, um über Strategien zum Umgang mit Komplexität zu sprechen.

Fußball ist damit so ganz anders als eine Maschine. Letztere ist alleine mit ausreichendem Wissen beherrschbar, ihr Verhalten ist kausal, vorhersehbar und für den Experten frei von Überraschungen. Objektiv, eindeutig beschreibbar und voller Wenn-Dann Beziehungen.

Nun machen Analogien ja nur Spaß, wenn sie uns zum Denken anspornen. Daher möchte ich Sie auf eine kleine Expedition einladen – zu einer Denkexpedition quasi.

Kommen Sie mit?

Schön. Freut mich! Rücksäcke auf und los geht’s.

Regeln in Planquadraten

Ich hab es eingangs ja erwähnt: Komplexität ist derzeit in aller Munde. Und nahezu immer wird der Wunsch geäußert, die Komplexität zu reduzieren. Übertragen wir das mal – rein hypothetisch bitte – mit folgender Frage auf die Kickerei: Welche grundsätzlichen Möglichkeiten gäbe es, die Komplexität eines Fußballspiels drastisch zu reduzieren? Oder anders ausgedrückt: wie könnte man ein Fußballspiel zu einem lediglich komplizierten Spiel machen?

Schon ein paar Antworten parat? … »Die Anzahl der Spieler reduzieren!«, denken Sie? Fehlanzeige. Es würde komplex bleiben – so komplex wie beispielsweise Basketball beim fünf gegen fünf oder wie Beachvolleyball beim zwei gegen zwei. »Das Spielfeld verkleinern!« Bedaure, auch das würde kaum etwas ändern, wie uns gute Tischtennismatches eindrucksvoll zeigen. »Spielzeit verkürzen!«, »Ball vergrößern!« Nein, alles keine wirksamen Optionen.

Die wirksamste Möglichkeit, aus einem komplexen Spiel ein kompliziertes Spiel zu machen lautet: Regeln hinzufügen. Möglichst viele Regeln am besten. Wollen wir mal gemeinsam spinnen? Welche Regeln könnte man einer Mannschaft auferlegen? Ich mach mal ein paar Vorschläge und Sie ergänzen unten in den Kommentaren:

  • Wir teilen das Spielfeld in Planquadrate auf, sagen wir mal 714 Stück á 10m² (die FIFA-Norm eines Spielfeldes beträgt 105m x 68m – wieder was gelernt).
  • Jeder Spieler darf nur ganz bestimmte Planquadrate betreten. Toni Kroos als Mittelfeldspieler beispielsweise nur 8 Planquadrate rund um den Mittelkreis.
  • Wenn man den Ball von rechts angespielt bekommt, darf man – solange man im Ballbesitz ist – das links neben einem liegende Planquadrat betreten. Eine Ausnahme besteht, wenn der Ball vom Torwart kommt.
  • Jeder Spieler muss den Ball mindestens 5 Sekunden behalten und darf in der Zeit das Planquadrat, in dem er den Ball erhalten hat, nicht verlassen.
  • Der rechte Mittelfeldspieler darf den Ball nur zum Mittelstürmer oder zurück zum rechten Innenverteidiger passen. Passt er zu einem anderen Spieler, bekommt die gegnerische Mannschaft einen 5-Meter (aus 11 Metern schießt man zu häufig daneben).
  • Jeder Torschuss sowie die Torschussrichtung muss beim Schiedsrichter angemeldet werden. Mindestens 5 Minuten vorher. Der Torwart muss seinerseits vor dem Schuss festlegen, in welche Richtung er sich schmeißen wird.
  • Der am Spielfeldrand stehende Sportdirektor ist nicht nur für die Regeleinhaltung der Mannschaft verantwortlich, sondern er muss zudem alle fünf Minuten, während einer obligatorischen Auszeit, 2 zusätzliche Regeln bei seiner Mannschaft etablieren .

So langsam macht es Spaß, oder? Wir brauchen noch ca. 100 weitere Regeln und schon dürfte die Komplexität weitestgehend aus dem Spiel heraus sein – kaum noch Überraschungen, stark objektivierbar, gut zu beherrschen. Mit zusätzlichen 250 Regeln ließe sich das Spiel dann vielleicht sogar schon automatisieren.

Eine schräge Vorstellung, oder? Und klar ist: dieses langweilige Spiel will sicher keiner mehr sehen.

Feindkontakt

Aber jetzt wird es doch noch spannend: stellen wir uns nun vor, dass nach der Halbzeitpause (falls es die überhaupt noch geben sollte) die gegnerische Mannschaft beginnt, nach und nach die neuen Regeln wieder aufzulösen, ohne Ahndung des vormals Unparteiischen. Zuerst melden die Stürmer ihre Torschüsse nicht mehr an. Dann behalten die Spieler den Ball nicht mehr 5 Sekunden am Fuß, sondern passen sofort weiter. Und schließlich löst der Gegner den Zwang auf, sich innerhalb der Planquadrate zu bewegen. Was würde wohl passieren?

Hier ist sicherlich einiges an Reaktionen vorstellbar. Wut, Gezeter und Beschimpfungen wären die ersten emotionalen Reaktionen. Dann würde der Sportdirektor vielleicht den Oberschiedsrichter anrufen. Und was würde auf dem Platz passieren, wie würde Toni Kroos darauf reagieren, dass sich der gegnerische Spieler plötzlich mit dem Ball am Fuß völlig frei um ihn herum bewegen kann?

Hier bin ich mir bei der Antwort recht sicher: er würde seinerseits beginnen, die Regeln zu missachten. Er würde bemerken, wann es für das Spiel und für das Ergebnis seiner Mannschaft wichtig wäre, kurzzeitig aus dem Regelwerk auszuscheren. Vielleicht würde er nur mal kurz die Grenzlinie ›seines‹ Planquadrates mit einem Fuß verlassen – allein schon aus dem Ehrgeiz heraus, selbst nicht als Verlierer dazustehen. Und womöglich würden es ihm andere Spieler nach und nach gleichtun. Was jetzt?

Darf das so sein? Wie würden Sie darauf reagieren? Wie reagiert denn unser fiktiver Sportdirekter auf die Situation? Wenn der Sportdirektor dem Glaubenssatz verfallen wäre, dass nur eine niedrige Komplexität zum Spielerfolg führt und er gedanklich nur über das Instrumentarium des modernen Managements verfügt, müsste er zunächst mit einer Purpose-Initiative, dann mit mit wertschätzenden Gesprächen, später mit professionell begleiteten Coachings und schließlich mit Sanktionen reagieren.

Ich meine damit nicht gleich den Aufbau eines stromführenden Zaunes um die Planquadrate herum. Aber der Sportdirektor würde dann vermutlich Manuel Neuer – als Kapitän der Mannschaft – auffordern, in jeder Auszeit einen Bericht vorzulegen, wie häufig sich ein Spieler außerhalb seines Bereiches aufgehalten hat. Am besten mit einer Ampelgrafik dazu.

Falls sich die Überschreitungen häufen, könnte der Kapitän auch für jeden Mannschaftsteil (Abwehr, Mittelfeld, Angriff) einen Gruppenleiter bestimmen, der die Regeleinhaltung direkt auf dem Platz kontrolliert. Oder es könnten individuelle Anreize geschaffen werden. Dazu würde der Sportdirektor im Vorfeld natürlich mit jedem Spieler ein individuelles Zielgespräch führen und den jeweiligen Beitrag zum Gesamtergebnis definieren…und so weiter. Ist nachvollziehbar, oder?

Von Neuer zu Ashby

Glückwunsch, nun haben wir uns mit unserer Expedition schon ziemlich weit vorgekämpft. Aber wie finden wir jetzt wieder zurück? Vielleicht nimmt uns William Ross Ashby ein kurzes Stück an die Hand und zeigt uns einen Weg. Der Amerikaner Ashby war wohl einer der bedeutendsten Kybernetiker. Seine Bücher »Introduction to Cybernetics« (1956) und »Design for a brain« (1966) gelten als Schlüsselwerke zu den Wissenschaften von komplexen Systemen. Ashby hat mit seinen Wissenschaftskollegen Phytagoras, Heisenberg oder Newton gemein, dass ein Satz, eine Relation bzw. ein Gesetz seinen Namen trägt. Ashbys Law of Requisite Variety lautet in seiner populistischsten Formulierung: »Only variety can destroy variety« – Komplexität kann wirksam nur mit Komplexität begegnet werden. Oder noch stärker vereinfacht: »In einer komplexen Welt gibt es nur eine erfolgsversprechende Antwort: selber komplexer werden.«

Nun gibt es für den Sportdirektor unserer Fußballmannschaft zwei Strategien, mit Ashbys Gesetz umzugehen. Strategie 1: Die Erkenntnis, die dem Gesetz zugrunde liegt ignorieren bzw. heftigst leugnen. Das kann man übrigens auch mit dem Newtonschen Gesetz tun – nur die Folgen dürften schmerzhaft sein.

Strategie 2: Regeln tatsächlich wieder drastisch reduzieren und damit die Komplexität erhöhen (nennen Sie mich old-school, aber Blutgrätschen müssten meines Erachtens weiterhin geahndet werden). Oder noch besser: die Regeln weitestgehend durch Prinzipien ersetzen. Ein Prinzip für einen Angriffsspieler könnte z.B. heißen: »Der Stürmer ist immer auch der vorderste Abwehrspieler«. Damit kann ein intelligenter Spieler etwas anfangen (das Wort Intelligenz ist hier bitte nur auf das Spiel zu beziehen – nicht auf die Fähigkeit, nach Abpfiff sprachlich korrekte und inhaltlich gewichtige Interviews geben zu können). Das Prinzip gibt ihm Orientierung und lässt ihm eine immense Zahl von Handlungsoptionen offen. Außerdem beschränkt es das Zusammenspiel des Teams nicht, es sind also eine schier unendlich viele unterschiedliche Interaktionen zwischen den Spielern möglich. Und genau das fördert die Komplexität.

So. Danke Herr Ashby, ich glaube den Rest der Wegstrecke kann jeder alleine gehen.

 

Anmerkung: dieser Artikel erschien hier erstmals am 15. März 2013. Im April 2020 wurde er überarbeitet und neu veröffentlicht.


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