Selbstverständlich ist es Augenwischerei, weil ich kein Außenstehender des gesellschaftlichen Systems bin – ich wirke unweigerlich auf das System und das System wirkt auf mich –, aber ich idealisiere mich dennoch gerne als Beobachter der Gesellschaft. Aktivist zu sein widerspricht irgendwie meinem Naturell.

Und als ein solcher nicht ganz unbeteiligter Beobachter erlebe ich nun die dritte schwere Krise unserer Wirtschaft. Beim zweiten Mal, bei der Weltfinanzkrise 2008 hatte ich schon manche Abläufe wiedererkannt, die mir 2001 noch gar nicht groß aufgefallen waren, weil ich da sehr mit mir selbst beschäftigt war. Aber jetzt, bei der heftigsten Krise seit Generationen, wiederholen sich diese Abläufe erneut, und zwar noch klarer und deutlicher.

Und wenn ihr mir erlaubt, eine meiner Beobachtungen mit euch zu teilen: Dieses unsere gesellschaftliche System hat von Krise zu Krise ein ganz bestimmtes Muster ausgebildet. Es scheint ein stabiles, eingeübtes Muster zu sein, ich fürchte nur, es ist ein unheilvolles.

Dieses Muster heißt: „Rettet mich!“

Oder präziser: „Lasse sich retten, wer kann!“

Und das passende Gegenstück dazu: „Wir retten euch, weil wir’s können!“

Peitsche und Knall

Die Angewohnheit des Staates, notleidende Branchen oder Unternehmen zu retten, schaukelte sich in den letzten Jahrzehnten zu einer regelrechten Rettungsmaschinerie auf. Sie beinhaltet einen sich selbst verstärkenden Rettungszyklus: Das eine Retten zieht die Notwendigkeit für das nächste Retten nach sich und führt zum Versprechen weiterer Rettungen. Darauf verlassen sich ganze Branchen und Unternehmen, weitere Branchen und Unternehmen wollen dann auch gerettet werden: Weil die einen Politiker sehen, wie sehr das Retten den anderen Politikern nützt, fordern sie für ihre Klientel auch Rettungsmaßnahmen, und weil die Branchenvertreter sehen, dass Geld für die einen da ist, fordern sie auch Geld für die anderen und irgendwann krakeelen alle durcheinander, die Politiker wollen unbedingt das Rettungsangebot unterbreiten, weil sie davon profitieren, die Retter zu sein. Die Branchenvertreter wollen unbedingt die Rettung nachfragen, weil das Angebot nun schon mal da ist und weil auch sonst das Geld nur zu anderen fließen würde. Es ist wie bei den Küken im Nest, wenn die Amselmutter einen Wurm bringt.

Die Krise liefert den Anlass: Zuerst kommt der Ruf nach Rettung von den Leitindustrien. Selbstverständlich muss den Automobilisten geholfen werden, da hängen so viele Arbeitsplätze dran. Die Banken sind ebenfalls systemrelevant, die kommen auch demnächst wieder dran, warten wir noch ein wenig.

Zuerst gehen alle davon aus, dass die Rettungsmittel begrenzt sind, also muss sehr laut danach geschrien werden, damit man nicht zu kurz kommt, bevor die Rettungstöpfe leer sind. Doch dann merken alle: Da werden keine Töpfe leer! Es wird immer weiter gerettet. Die Druckerpresse macht brrrr und spuckt immer mehr Mittel aus. Da wäre es ja töricht, nicht dabei zu sein. Die Luftfahrtbranche leidet – selbstverständlich brauchen wir die, also müssen wir die retten. Die Tourismusbranche und Hotellerie und Gastgewerbe mobilisieren ihre Verbände – ganz klar, die leiden ja gerade auch immens, also müssen die Gastronomen und Reiseveranstalter gerettet werden. Die Buchhandlungen und Verlage wollen auch was haben, die Selbständigen rufen um Hilfe, die Kleinunternehmer, die Mittelständler, die Einzelhändler, die Künstler und Kulturschaffenden auch, ja die Kultur darf auch nicht eingehen! Und der Fußball nicht!

Je relevanter die eine Branche ist, umso relevanter ist die andere. Logisch. Oder wollen Sie dem einen Menschen sagen, dass er wichtiger ist als der andere? Eben. Ja, sogar an die nebenjobbenden Studenten, die jetzt Studierende heißen, denkt die Bildungsministerin und fordert für sie Hilfe ein. Die ganze Wirtschaft erhält Soforthilfe und Kurzarbeitergeld und am liebsten würde jeder Bundesbürger einen Scheck bekommen, am besten unterschrieben von Frau Merkel persönlich.

Das ist keine persönliche Kritik an den Rettern: Würde ein Spitzenpolitiker da nicht mitmachen und sich nicht irgendwie als Retter inszenieren, würde es ihm bei der nächsten Wahl schlecht bekommen. Wenn der Altmaier und der Heil mit vollen Händen retten dürfen, dann wollen die Karlicek und die Klöckner und alle anderen eben auch.

Ja, das ist wohlfeil von meiner Beobachterposition aus, ich weiß. Aber bei diesem Rettungswettbewerb wird der Mechanismus deutlich, warum es zu diesen sich aufschwingenden Rettungswellen kommt. Das ganze sieht aus wie bei einer geschwungene Peitsche. Das Problem dabei: Irgendwann mal knallt’s bei so einer Peitsche. Irgendwem tut’s dann am Ende weh.

Der Mechanismus geht so: Die zu Rettenden müssen krakeelen, weil sie auf die Hilfe angewiesen sind. Sie würden sonst pleite gehen. Warum sind sie auf die Hilfe angewiesen? Weil sie nicht über ausreichende eigene Mittel verfügen. Warum verfügen sie nicht über ausreichende eigene Mittel? Da gibt es viele Gründe, der entscheidende hier: Weil diese ihnen zuvor weggenommen worden sind.

Zur Erinnerung: Deutschland ist das Land mit der höchsten Steuer- und Abgabenlast der Welt. Nirgendwo nimmt der Staat seinen Bürgern und Unternehmen mehr Geld weg. Warum macht er das? Weil er glaubt, das Geld besser einsetzen zu können als die Bürger und Unternehmen. Zum Beispiel zum Retten.

Die Bürger und Unternehmen müssen also um Hilfe krakeelen, um von dem Geld, das ihnen zuvor weggenommen worden ist, möglichst viel wieder zurückzubekommen.

Wenn ein Unternehmer, der als marktwirtschaftlich eingestellter autonomer Geist eigentlich überhaupt kein Geld vom Staat will, nun die Möglichkeit sieht, sich etwas von seinen Überlasten zurückzuholen, denkt er: Fein, das ist ja nur gerecht, das ist eine nachträgliche Steuersenkung, das Geld gehört eigentlich mir, ich hole es mir zurück.

Das ganze Schauspiel stärkt aber nur die Position des Retters. Denn je mehr der Staat großzügig verteilen kann, was er den Rettungsempfängern vorher weggenommen hat, desto ohnmächtiger sind die Bürger und Unternehmen und desto mächtiger ist seine Position. Die Retterei ist ein Aspekt des fatalen Hangs der Deutschen zum Autoritären, denn der Mechanismus stärkt die autoritäre Macht des Staates.

Aus dieser Sicht wird auch verständlich, warum bereits die ersten Politiker den Weltrekord noch ausbauen wollen und nach noch höheren Steuern und Abgaben rufen. Es gibt nichts, was so amtsstärkend und systemstabilisierend ist, als das Geld der Bürger einzuziehen und nach Gutdünken großzügig zu verteilen.

Das Retten ist nicht die Lösung

Diesen Rettungsfluch hat nicht erst die Krise herbeigeführt. Und die Politiker haben keine Pandemie gemacht, um mächtiger zu werden. Sie haben auch die Weltfinanzkrise vor gut zwölf Jahren nicht willentlich herbeigeführt. Sie wollen das alles nicht und das sollte man ihnen auch nicht unterstellen.

Und trotzdem: die Krise nützt Politikern. Ja, mehr noch: Unser politisches System zwingt sie geradezu, die Retterrolle zu besetzen.

Macht ist eine soziale Funktion, sie wird demjenigen zugeschrieben, der die Pfeile im Köcher hat und dem man zutraut, sie auch einzusetzen. Würden die Bürger einen Politiker so einschätzen, dass er die immensen Geldmittel, über die er verfügt, nicht einsetzen würde, dann würden sie ihm die Macht auch nicht zuschreiben, das heißt, sie würden versuchen, ihn per Wahlurne zu entmachten.

Ein Politiker sagt nicht: Bürger, gib mir mehr Geld, damit ich mächtiger werde. Er sagt: Je mehr Geld ich habe, desto besser kann ich dich retten. Dass ich dabei mächtiger werde, ist ein Kollateralschaden, den ich gar nicht vermeiden kann, aber du weißt doch: Ich sorge mich um dich. Das ist doch legitim, oder?

In diesem Spiel erhalten sich sowohl die Retter als auch die Opfer selbst in ihren Rollen. Denn die Retter wurden zweifellos freiwillig von den Opfern gewählt.

Der Einwand, dass ihr da ja nicht mitspielen müsst und euch wie ein vernünftiger Unternehmer eben in guten Zeiten Rücklagen bilden müsst, ist einerseits richtig, andererseits aber auch vergiftet. Denn die hohen Steuern und Abgaben machen es ja extrem schwer überhaupt Rücklagen zu bilden aus den wenigen Mitteln, die nicht vom Staat abgeschöpft werden. Und zudem machen die politisch gesteuerten Niedrigstzinsen der Europäischen Zentralbank Rücklagen sehr unattraktiv. Außerdem wäre es ein Wettbewerbsnachteil, wenn man die übrig gebliebenen Mittel nicht investiert, wie es alle anderen machen.

Nicht zuletzt haben ja alle gelernt: Wenn eine Krise kommt, hilft der Staat. Wenn das Risiko durch den Staat abgefedert wird, nimmt jeder mehr Risiko, das ist nur logisch.

Das peitscht auch die Finanzindustrie an: Ein Spekulant hat gelernt: Die Lufthansa kann nicht pleite gehen. Zur Not wird sie gerettet. Ein Totalverlust kann mit dieser Aktie also nicht passieren, also kann man noch mehr drauf verwetten. Der Punkt ist: Womit rettet der Staat die Spekulation des Großspekulanten? Natürlich mit Steuermitteln, also auch mit eurem und meinem Geld. Wir alle federn das Risiko der Finanzspekulanten ab, die in zu rettende Unternehmen und Branchen investieren. Das ist nichts anderes als eine Umverteilung von unten nach oben. Das ist also genau das Gegenteil von dem, was diejenigen, die so laut nach Rettung rufen, erreichen wollen.

Jeder vernünftige Mensch, der sich ein wenig mit Wirtschaft beschäftigt hat, müsste wegen alldem dringend wollen, dass Firmen die pleite sind, auch pleite gehen. Das Retten ist das Problem, nicht die Lösung.

Eigentlich müsste das Retten von Unternehmen und Branchen gesellschaftlich geächtet werden. Denn es macht Bürger abhängig vom Staat, macht sie unmündig und untergräbt ihre Souveränität. Ein Rettungsbedürftiger kann nunmal nicht der Souverän sein.

Kein Ausgang!

Kein Wunder, dass in diesem sich selbst verstärkenden Machtrausch viele Politiker augenscheinlich vergessen, dass nicht sie, sondern eigentlich der Bürger der Souverän sein sollte. Wäre der Bürger der Souverän, würde er sich das Geld, mit dem die Politiker ihn in der Krise retten wollen, erst gar nicht wegnehmen lassen, denn dann könnte er sich selbst retten. Simpel gesprochen.

Die Frage ist, wie das gehen soll. Wie wollen wir aus diesem Kreislauf aussteigen? Wie kann der designierte Souverän seine Souveränität zurückerhalten?

Ganz ehrlich: Ich habe darauf derzeit noch keine Antwort. Sicher scheint mir, dass es nichts hilft, einfach nur Personen auszutauschen, also andere Politiker von anderen Parteien in die Position zu wählen, uns zu retten. Denn das ändert nichts an dem Mechanismus selbst.

Ich denke, nur der Bürger selbst kann sich seiner Souveränität bewusst werden. Und das hieße: Aufbegehren. Wenn es geht, friedlich! Das aber ist nur von denen zu erwarten, die echte persönliche Nachteile haben. Also die, die netto unterm Strich nicht alimentiert werden, sondern für den ganzen Spaß bezahlen. Das sind die verbliebenen Wertschöpfenden, die berühmten Nettosteuerzahler, die je nach Rechnung in Deutschland zwischen 15 und 18 Millionen Bürger stark sind, immerhin etwa ein Viertel der Wähler. Die müssten aufbegehren, denn alle anderen sind Profiteure und werden es vermutlich nicht tun.

Aber diese 15 bis 18 Millionen, der produktive Kern der Republik, sind meiner Beobachtung nach mehrheitlich friedliebend, wollen eigentlich nur ihre Ruhe haben und sich auf ihre Arbeit konzentrieren dürfen. Sie haben so gar keinen revolutionären Antrieb.

Ich gehöre auch dazu.

Einerseits macht mich das ganze Rettungssystem immer wieder sehr wütend, weil dieses Rettungsrad anzutreiben eine gigantische Verschwendung ist, die die Gesellschaft lähmt und Fortschritt behindert. Andererseits habe ich Verständnis für alle Akteure einschließlich der Politiker. Ich kann nicht einmal glaubhaft den Standpunkt vertreten, dass ich anders handeln würde, wenn ich an deren Stelle im System stecken würde.

Klar, ich ärgere mich schon auch ab und an über einzelne Personen. Wenn Peter Altmaier wider besseres Wissen behauptet, „kein Arbeitsplatz müsse wegen Corona verloren gehen“, ist das natürlich eine Unverfrorenheit. Aber gut, wenn er das nicht gesagt hätte, dann hätte eben ein anderer etwas Blödes gesagt. Darauf kommt es schon nicht mehr an.

Ich will auch nicht bestimmte Instrumente im Einzelnen kritisieren. Selbstverständlich ist so eine Abwrackprämie blöd wie alles, was aus der interventionistischen Mottenkiste kommt. Aber auch ökologisch motivierte Subventionen sind nicht per se besser. Mich ärgern alle diese Instrumente, weil sie unterm Strich prinzipiell Profiteure und Opfer erzeugen und gesamtwirtschaftlich schaden. Das erzeugt beträchtliche Wut in mir, das muss ich schon zugeben.

Und gepaart mit meiner Ohnmacht wird daraus dann allzu oft so ein hässlicher Sarkasmus, der nichts anderes als Zeichen beginnender Resignation ist. Denn ich sehe ja schon die nächste Peitschenwelle und weiß, dass der nächste Knall noch viel größer wird.

Das müssen andere machen

Die Konsequenz für mich: Nachdem ich mich ein wenig meiner ohnmächtigen Wut hingegeben habe, wende ich mich ab und drehe mich in die Richtung, in die ich etwas bewirken kann. Ich muss ja etwas tun, damit es bei mir weitergeht, damit ich nicht zu denen gehöre, die gerettet werden müssen. Da verspüre ich so einen Stolz. Ich will ohne Geld vom Staat auskommen!

Das aber ist albern. Denn es macht mich ja nicht zu einem besseren Menschen, sondern nur zu einem, der noch mehr Steuern zahlt und am Ende womöglich doch pleite ist.

Und es geht ja auch kaum. Der Staat schiebt einem ja ständig irgendwelche Gelder unter. Kindergeld zum Beispiel. Es ist wirklich albern, dass meine Familie auf diese Weise subventioniert wird.

Ich schaffe es in diesem merkwürdigen System also selbst als Wertschöpfender gar nicht, subventionsfrei und unalimentiert zu bleiben. Es ist nicht vorgesehen. Aber aus Stolz renne ich dann weiter und überlege, was zu tun ist, um mein Geschäft erfolgreich weiterzuentwickeln – womit ich dieses System, das mir so zuwider ist, unterstütze, was mir vollkommen bewusst ist.

Ihr merkt: Ich bin ratlos.

Das war auch bei meinem letzten Buch „Der Führerfluch“ schon so. Ich kann beobachten, was passiert und kann die Zusammenhänge hinschreiben. Aber den richtigen Anpack, also wie man dieses stabile System so irritieren könnte, dass es eine Veränderung gibt, dass es also in ein anderes stabiles System höherer Ordnung übergeht, finde ich auch nicht. Mir fehlt die Idee.

Wir bräuchten so etwas wie einen Schutzraum. Ein Areal, wo wir das Neue bauen könnten. Eine Sonderwirtschaftszone, einen Minister, der sich auf ein solches Experiment einlassen würde. Aber das anzunehmen wäre naiv.

Und würde das bestehende System destabilisiert, hätte ich die Befürchtung, dass es eher noch autoritärer würde. Denn verrückterweise gibt es überall Strömungen, die sich eine noch autoritärere Gesellschaft herbeisehnen. Das ist mir ein vollkommenes Rätsel. Müssten nicht gerade wir doppelt gebrannten Deutschen den autoritären Staat scheuen wie der Teufel das Weihwasser?

Vielleicht wäre ich sogar irgendwo in der Politik tätig, wenn ich eine Idee hätte, wie ich etwas bewegen könnte. Wenn ich irgendwo eine Chance sehen würde. Aber ich sehe keine. So denke ich eben darüber nach, versuche zu verstehen, schreibe darüber, halte Reden und versuche Menschen zu inspirieren.

Also, Revolution ist einfach nicht mein Beritt. Das müssen dann andere machen.


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