Brief an die alte Dame

Lars Vollmer

Auf den ersten Teil von  „Weniger Demokratie wagen!“ habe ich zünftige Resonanz bekommen. Das soll ja auch bitte schön so sein, wenn es um Demokratie geht und ich hatte es nicht anders erwartet. Insofern freue ich mich! Schuldig geblieben bin ich bis jetzt aber noch den offenen Brief an die alte Dame, den ich am Ende angekündigt hatte, um Ihre Nerven bis zum Zerreißen zu spannen. Mittlerweile habe ich diesen offenen Brief fertig geschrieben. Er bildet sozusagen eine Art Fortsetzung, also etwa wie das Wäscheaufhängen nach dem Waschtag. Hier ist er:

 

Liebe alte Dame, liebe SPD,

was du auf deine alten Tage noch mitmachen musst … das tut mir leid. Es sind wahrlich unruhige Zeiten, in denen du deine alten Knochen nochmal hinhalten musst. Bekanntlich nimmt die Knochensubstanz im Alter ab, und bei dir hat sich die Wählersubstanz, nämlich die bei Bundestagswahlen für dich abgegebenen Stimmen, in den letzten 20 Jahren von gut 20 Millionen auf rund 9 Millionen mehr als halbiert. Das ist eine ziemlich akute Stimmenosteoporose, würde ich sagen.

Dennoch habe ich nun keine ernste Sorge um unser Land und auch nicht wirklich um dich – sogar Hannover 96 ist letztes Jahr wieder aufgestiegen. Ich schreibe dir diesen Brief auch keineswegs, weil ich ein grundsätzlicher Gegner sozialdemokratischer Politik wäre. Nein, immerhin haben deine Positionen und die dich vertretenden Personen es geschafft, dass du eine der vier Stimmen, die ich im letzten Herbst zu vergeben hatte, für dich verbuchen konntest.

Ja, du kannst noch immer stolz sein. Als du im Deutschen Reich am Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein hervorgegangen bist, musstest du erst noch gegen das kaiserliche Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie ankämpfen. Diese Hürden und Widerstände schienen dich damals umso stärker zu machen. Bereits 1890, bei der ersten Wahl, an der du nach Aufhebung der Sozialistengesetze teilnehmen durftest, warst du stärkste Partei.

Ich frage mich, vor allem wenn ich auf dich in deinem heutigen, doch etwas zusammengesunkenen Zustand schaue, wie du das damals hinbekommen hast. Die Historiker sagen: durch deine revolutionär marxistische Ausrichtung. Also durch deine Ankündigung, den Kapitalismus zu überwinden und die Arbeiterklasse aus Armut und Unterdrückung zu befreien. Du wolltest eine an Gleichheit und Solidarität orientierte Gesellschaftsordnung und damit meintest du: Demokratie. Und damals wusste jeder genau, was du damit meintest. Demokratie bedeutet direkt aus dem Griechischen übersetzt: Volksherrschaft. Also wolltest du: die Revolution, den Sturz der Reichen und Mächtigen, die Herrschaft des einfachen Volks, also des Proletariats, der Arbeiter und Bauern. Du warst eine Radikale!

Auch heute hältst du in deinen Partei- und Wahlprogrammen und in den Reden deiner Genossen eines ganz hoch: die Demokratie. Dagegen wird keiner etwas einwenden, so viel steht fest. Aber bitte sei mir nicht böse, liebe alte Dame, mit dieser Demokratie, die du im Munde führst, gibt es ein Problem.

Ich dachte immer, ich sei Demokrat. Aber so langsam versteh ich nicht mehr, was das konkret überhaupt sein soll. Denn du verwirrst mich!

Ja, ich kann staatsrechtliche Grundsatzartikel lesen. Habe ich auch. Ist interessant. Aber in deiner praktischen Ausgestaltung wird das immer seifiger, immer flutschiger. Ich kann, wenn ich dir so zuschaue, gar nicht mehr erkennen, was demokratisch sein soll und was nicht. Und dabei dachte ich doch, dass Demokratie das Fundament unserer Gesellschaft ist. Und dann müsste es doch felsenfeststehen, was das bedeutet.

Du sagst ja selbst in deinem aktuellen Regierungsprogramm, dass unser Land demokratischer sei als jemals zuvor und dass du stolz seist auf unseren demokratischen Rechtsstaat. Und du warnst außerdem, dass der Zusammenhalt unserer Demokratie gefährdet sei durch die politische Radikalisierung. Radikal sein willst du also offenbar heute nicht mehr. Und Demokratie zu erkämpfen brauchst du auch nicht mehr. Alles schon erledigt.

Ja, du betrachtest die Demokratie heute als das wichtigste zu schützende Gut unserer Gesellschaft. Und da hätte ich die Frage, ob das so demokratisch ist, was du gerade mit der Demokratie so anstellst.

Ist es demokratisch, dass deine Mitglieder über die Beteiligung an der neuen Bundesregierung abgestimmt haben? Immerhin sind einige von denen gar keine deutschen Wahlbürger und manche sind nur zum Zwecke der Abstimmung eingetreten und danach wieder ausgetreten. Ja, es hat sogar mindestens ein Hund namens Lima an der Wahl teilgenommen (dessen Stimme du allerdings gerade noch annullieren konntest, weil du aus der Bild-Zeitung davon erfahren hast). Oder wäre es demokratisch, wenn die demokratisch gewählten Delegierten oder der demokratisch gewählte Parteivorstand über die Beteiligung an der Regierung demokratisch abstimmten? Oder haben bereits die Mehrheitsverhältnisse der Wählerstimmen bei der Bundestagswahl selbst die Antwort gegeben, ob du mitregieren sollst oder nicht?

Ist die Wählerstimme bei einer demokratischen Wahl nicht generell die Zustimmung zu einer Partei? Ja, klar, denn du kannst ja nicht Nein ankreuzen. Aber bist du, liebe alte Dame, dann überhaupt frei zu sagen: »Och, ich regiere jetzt mal nicht.«? Das würde doch jeden einzelnen deiner Wähler, ja, das würde die ganze Demokratie vor den Kopf stoßen!

Die FDP hat das glatt gemacht, sie hat abgewunken, weil sie lieber gar nicht regieren wollte, als in eine Koalition einzutreten, in der sie ihre Politik nicht zu verwirklichen sah. Dafür hat dein alter Justizminister und neuer Außenminister Heiko Maas die Liberalen kolossal abgewatscht: »Der parteipolitische Egoismus der FDP beschädigt unsere Demokratie«, diktierte er der dpa!

Heiliger Strohsack, demnach ist Egoismus undemokratisch? Bist du sicher? Und außerdem darf somit also deiner Meinung nach eine demokratische Partei gar nicht Nein zur Regierungsbeteiligung sagen. Weil das undemokratisch ist. Ja, gut, aber dann sage mir bitte, warum hast du dann deine Genossen genau darüber mit Ja oder Nein abstimmen lassen? War das Nein auf dem Abstimmungszettel dann eine echte Option? Oder war das nur so pro forma, wie ja auch das Begleitschreiben deines Vorstands dem Wähler klipp und klar sagte, was er als braves Mitglied zu wählen hatte, nämlich den Beschluss des Vorstands, also: Ja!

Ist so ein betreutes Wählen noch demokratisch?

Oder ist die echte, ergebnisoffene innerparteiliche Auseinandersetzung über eine solche Frage eben gerade doch Teil der Demokratie? Aber warum sollten dann deine Kollegen von der FDP undemokratisch sein, wenn sie sich zu einem Nein entscheiden? Hmmm …

Du sagst, das Votum der Wähler zu ignorieren sei respektlos. Einverstanden. Aber dann verstehe ich überhaupt nicht mehr, wie respektvoll es gegenüber mir, einem Wähler ist, wenn du direkt am Wahlabend nach deiner krachenden Niederlage in persona deines Parteivorsitzenden verkündest, dass du für Regierungsarbeit nicht zur Verfügung stehst, weil du beschlossen hast, in die Opposition zu gehen.

Wer hat das denn demokratisch beschlossen? Die Wähler? Nein, die haben dich ja gewählt. Die Parteimitglieder? Nein, die sind ja erst später gefragt worden. Es war wohl die Parteiführung. Dafür ist die ja auch gewählt. Aber wenn die sowas entscheiden kann, warum hat es dann noch einen Mitgliederentscheid gebraucht, als die Parteiführung es sich doch noch anders überlegt hatte und lieber doch regieren wollte, obwohl sich doch am Wahlergebnis gar nichts geändert hatte?

Ich bin immer verwirrter. Man könnte den Eindruck haben, dass es undemokratisch ist, wenn die FDP nicht regieren will, dass es aber demokratisch ist, wenn die SPD es will. Und das kann ja nicht sein.

Oder ist demokratisch einfach nur ein Wort zur allgemeinen Legitimation deiner eigenen Position? Damit könnte ich leben. (Vielleicht nicht jeder Staatsrechtler, aber das ist deren Problem.) Aber dann sei doch ehrlich und sage es!

Ach, und was ich auch immer weniger verstehe an dieser Demokratie, je mehr ich darüber nachdenke: Sind nun die Anzahl und das Verhältnis der auf eine Partei bei einer Wahl abgegebenen Stimmen der Ausdruck des demokratischen Willens? Oder ist es die Differenz zur Zahl der Stimmen bei der Wahl vor vier Jahren? Wenn du 5,2 Prozentpunkte gegenüber der Wahl 2013 verloren hast, bist du Wahlverlierer, das hast du selbst gesagt. Aber wenn du dennoch zweitstärkste Partei bist, bist du zweiter Wahlgewinner, auch das hast du gesagt.

Natürlich verstehe ich, dass du nicht nochmal als Juniorpartner von Frau Merkel in eine Regierung wolltest. Die Erfahrung zeigt ja auch, dass sie die Knochen ihrer Juniorpartner abfieselt und dann auf die Halde wirft. Und das meine ich jetzt lediglich metaphorisch, bitte schön. Jedenfalls hat dir die letzte Partnerschaft mit ihr nicht gerade zur Gesundheit gereicht. Du wolltest in die Opposition, um beim Wähler wieder sichtbarer zu werden. Das ist legitim. Aber eben doch einfach nur ein PR-Trick. Wahltaktik. Wenn also so etwas ein Kriterium pro oder contra Regierungsbeteiligung ist: Ist das dann demokratisch? Oder nicht doch einfach taktisch? Und ist das überhaupt ein Unterschied?

Ich weiß es mittlerweile nicht mehr. Und es geht noch weiter: Zwei deiner Jungs wollten das Außenministeramt. Der eine wird von der Bevölkerung in den Umfragen als beliebtester Politiker angesehen. Der andere hat 100% Zustimmung von der Parteibasis bekommen. Zwei starke Argumente. Nur: Aus welchem demokratischen Prinzip leitet sich ab, dass der eine das Amt haben darf und der andere nicht? Und wieso bekommt dann am Ende ein Dritter das Amt, der weder von der Partei gewählt noch bei der Bevölkerung sonderlich beliebt ist?

Wie jetzt? Hast du das irgendwie anders beschlossen? Also undemokratisch? Aber dann erklär mir das doch bitte mal! Denn ich weiß jetzt gar nicht, ob ich für deine Politik oder dagegen bin. Für oder gegen deine eigenwillige Personalauswahl.

Keineswegs stoße ich in das Horn derjenigen, die deinen Führungskräften sofort persönliche Machtgelüste vorwerfen. Das liegt mir fern, auch wenn es manchmal zugegebenermaßen die naheliegendste Erklärung ist. Nein, ich finde das alles irgendwie sympathisch. Aber ich würde dann schon gerne irgendwann mal auch begreifen, was das alles eigentlich soll.

Nicht nur das Postengeschacher rund um diese ganze Regierungsbildung lässt mir die Bedeutung des Wortes Demokratie zwischen den Fingern hindurchrinnen. Es tauchen noch viele weitere Fragezeichen vor mir auf, wenn ich dir so zuhöre. Und mit gespitzten Ohren zugehört habe ich dir beispielsweise bei dem, was du über den Konflikt um die Unabhängigkeit Kataloniens gesagt hast. Das betrifft mich ja auch, weil ich zwar meine Steuern in Deutschland zahle, aber viel in Barcelona wohne.

Dein außenpolitischer Sprecher Niels Annen empörte sich, dass er den Vergleich zwischen dem Verhalten der Madrider Zentralregierung und dem von Francisco Franco, dem nationalistischen Diktator Spaniens zwischen 1936 und 1975, infam finde. Annen forderte, der demokratisch gewählte Präsident der katalanischen Autonomieregierung Carles Puigdemont solle sich der spanischen Justiz stellen. Spanien sei nämlich ein demokratischer Rechtsstaat! Katalonien genieße die spanische Demokratie und werde nicht von Madrid unterdrückt. Katalonien habe sich bewusst entschieden, einen politischen Streit außerhalb der demokratischen Institutionen auf der Straße auszutragen. Beide Seiten müssten den Dialog aufnehmen. Warum? Weil es um die Demokratie geht.

Dann sagte dein damaliger Vorsitzender Martin Schulz, die EU solle sich bloß nicht einmischen, das sei nicht ihre Aufgabe. Warum? Weil es um die Demokratie geht.

Dann sagte dein Fraktionsvize Axel Schäfer, es sei erstrangige Aufgabe der EU, zwischen Madrid und Barcelona zu vermitteln. Warum? Weil es um die Demokratie geht.

Mit anderen Worten: Du wusstest überhaupt nicht, was du eigentlich wolltest. Dagegen habe ich ja gar nichts, denn alle wollen sicherlich das Beste. Dein Wunsch, mit einer Stimme zu sprechen, bringt halt manchmal so ein Chaos zustande. Aber worauf ich hinauswill: Warum nimmt denn jeder deiner Genossen, der etwas zu dem Thema sagt, und sei es noch so widersprüchlich, die Demokratie als Kronzeugin?

Oder bedeutet Demokratie für dich heute in Wahrheit einfach nur das, was du irgendwie gut findest?

Auch das wäre für mich ok. Dann wäre demokratisch aber kein Argument, sondern der Ausdruck eines Gefühls, das etwas irgendwie gut sei. Das ist legitim. Wenn einer sagt: »Ich habe irgendwie das Gefühl, man sollte es so oder so machen …«, dann finde ich das völlig in Ordnung. Aber muss denn dann um Himmels willen ein solches Gefühl ständig hinter demokratisch versteckt und damit legitimiert werden?

Weiter: Ist es im Sinne einer Demokratie, den Begriff Demokratie ständig zu verwässern? Oder erweist das der Demokratie einen Bärendienst? Ist das somit undemokratisch? Also: Findest du das gut oder schlecht?

Das ist die Frage. Und darum besteht für mich Redebedarf. Natürlich bist du überhaupt nicht die einzige, die den Begriff verwässert, aber jetzt schreibe ich nun mal gerade dir. Nein, es steht mir ganz gewiss nicht zu, dir vorzuschreiben, was du sagen oder nicht sagen sollst! Das fände ich auch ehrlich gesagt undemokratisch.

Aber vielleicht hilft es ja, wenn du statt Demokratie einfach mal sagen würdest, was du eigentlich sagen willst, wenn du aus reiner Gewohnheit schon wieder Demokratie sagen willst. Indem du jeweils immer sagst, was du mit ihm meinst, könntest du den Begriff vielleicht sogar wieder nach und nach mit Substanz füllen.

Nur solltest du dann das Wort Demokratie vielleicht mal einige Zeit aus deinem Sprachschatz streichen.

Mehr wollte ich eigentlich gar nicht vorschlagen.

Nix für undemokratisch, dein

 

 


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Lars Vollmer wäscht Schmutzwäsche in der Öffentlichkeit – also nicht seine eigene, sondern eher die der Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. In seiner Publikationsreihe »Vollmers Waschtag« nimmt er seine Leser mit auf eine längere gedankliche Reise. Die Essays erscheinen online auf der Website des Autors und im handlichen Pocket-Format alle zwei Monate zum Lesen, Verschenken und Sammeln.
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  • Helmut K. Doerfler
    19. April 2018 at 20:02

    Hier bei der „alten Dame“, bei deren deutschen Konkurrenten und in Katalonien / Spanien reden wir doch stets von ‚repräsentativen Demokratien‘. Wenn ich hier und dort indessen an die Repräsentanten denke, dann ist mir oft zum Heulen.

  • Wolf Peter Buchholz
    20. April 2018 at 12:46

    Lieber Lars,
    Demokratie heißt Volksherrschaft. Willst Du überhaupt herrschen oder beherrscht werden? Bei dem Titel „weniger Demokratie wagen“ hatte ich Dich noch viel ketzerischer erwartet. Aber das kommt ja vielleicht in Deinem Anschlussbuch zum 7-einhalbten Kapitel „Wie sich Menschen organisieren . . .. „.
    Ich vermute, dass im 18. Jahrhundert aufgrund geringer politischer Bildung nicht mehr drin wahr als Kästchen zum Ankreuzen anzubieten. Damit haben die Menschen sich ja auch erstmal einigermaßen beruhigt. Und Kriege vorbereitet wie alle Menschen zu allen Zeiten.
    Wir arbeiten in unserer Schule mit Prinzipien und Konsent. Ich weiß nicht ob das für die ganze Welt ginge. Doch, muss wirklich immer die ganze Welt auf einmal regiert werden?
    Ich lass das mal dabei und gucke erstmal, was in Deinem Anschlussbuch steht.
    Wolf Peter

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