Brief an Jogi Löw

Lars Vollmer

 

Lieber Herr Löw,

Sie sind mir ja mal ein Rebell! Da wollen Sie einfach nicht zurücktreten!

Und das, obwohl die Leistung Ihrer Mannschaft und die Platzierung als Gruppenletzter bei der Weltmeisterschaft unterirdisch waren, jedenfalls gemessen an den erwiesenen Fähigkeiten der Einzelspieler.

Und das, obwohl Sie die Typen Sané, Wagner und Petersen nicht mitgenommen haben – dafür aber den neben sich selbst herlaufenden Müller und den schwerfälligen Boateng und den verunsicherten Gündogan und den Chancentod Gomez und einige andere Schatten ihrer selbst, ja und auch den politisch irrlichternden Özil, der jetzt für die DFB-Granden als Sündenbock herhalten muss!

Und das, obwohl Sie das Leistungsprinzip auf den Kopf gestellt haben, indem Sie einen fast ein ganzes Jahr lang verletzten Torhüter ohne Spielpraxis, der die komplette Saison verpasst hat, einigen richtig starken Torhütern vor die Nase gesetzt haben.

Und das, obwohl sich der Deutsche Fußballbund mit seiner überheblichen Image-Kampagne »Best NeVer Rest« so dermaßen blamiert hat.

Und das, obwohl …

Ja, ganz egal, was Ihnen alles sonst noch entgegensteht – Sie machen einfach weiter.

Und je mehr Fußballdeutschland leidet, lamentiert und ledert, desto mehr Respekt nötigt mir Ihre Entscheidung ab. Und zwar nicht deshalb, weil Sie damit Recht haben. Nicht deshalb, weil ich’s genauso machen würde. Nicht deshalb, weil ich Sturheit und Am-Sessel-Kleben für eine Tugend halte. – Sondern weil ich Ihre Entscheidung für nichtmoralisch, für nichtemotional, für nichtideologisch, für nichtreligiös, vielmehr für vernünftig halte. Und Vernunft als Fundament für Entscheidungen, das ist heute so selten geworden, dass Sie mir erscheinen wie »ein starker Fels, eine Burg, die dem deutschen Fußball helfe« (um den Psalm 31 herbeizunötigen).

Ihre Entscheidung wirkt auf mich wie ein Gegengift gegen den moralischen Impetus, mit dem sich eine Nation von verletzten Fußballreligiösen zur Empörung emporschwingt und an alle möglichen Teufeleien glaubt – von Bierhoff bis Özil – , die den bösen Fluch vermeintlich verursacht haben.

Demgegenüber finde ich alles, was Sie im Vorfeld der WM getan und wie Sie mit der Öffentlichkeit kommuniziert haben, erstaunlich säkular. Das ist wie Sauerstoff für aufgeklärte Geister.

Darum schreibe ich Ihnen hier eine ziemliche Lobhudelei für Ihre bemerkenswerten Entscheidungen. Ich denke, das schadet Ihnen nicht. (Und eigentlich will ich damit ja auch eher die Gläubigen, die Ideologen, die Moralisten ein wenig ärgern. Wer weiß, wenn es für Sie glänzend gelaufen wäre, hätte ich Ihnen vielleicht einen Verriss geschrieben, denn alles andere wäre ja langweilig.)

Eine dieser bemerkenswerten Entscheidungen war meines Erachtens die, den Jungstar Sané auszuladen. Das muss man sich erstmal trauen. Ich meine, der Junge hat sich im Starensemble von Manchester City durchgesetzt, hat eine überragende Saison gespielt und wurde nicht umsonst zum besten jungen Spieler der abgelaufenen Premier-League-Saison gekürt. Eine Ehre, die vor ihm Weltstars wie David Beckham, Steven Gerrard, Cristiano Ronaldo, Gareth Bale und Harry Kane zuteil wurde. Mein lieber Schwan. Und Sie sagen einfach njet.

Viele wollten die Gründe dafür wissen. Dabei ist es ganz einfach: Die Passung der Spieler im sozialen Gefüge einer Mannschaft zueinander ist nicht zu verargumentieren. Sie hatten einfach den Eindruck, dass Sané im Kreis der Nationalelf nicht so dienlich sein kann wie für Manchester City. Punkt. Sie haben da einfach auf Ihr Gefühl gehört und sich nicht dreinreden lassen.

Das nenne ich Konsequenz an der richtigen Stelle, denn genau für dieses Gefühl, ob es im Gefüge passt bzw. wie es am besten passt, für genau das, was eben nicht messbar oder objektivierbar und doch gleichermaßen erfolgsentscheidend ist, sind Sie ja der Chef dieser Truppe. Das ist Ihr Job. Genau darin liegt Ihre Verantwortung, und die haben sie wahrgenommen, auch wenn die Entscheidung ziemlich unbequem war und Ihnen jetzt, nach dem Ausscheiden, auf die Zehen gefallen ist. Viel leichter hätten Sie es gehabt, wenn Sie sich irgendwelche Moralvorstellungen nach dem Das-macht-man-so-Muster hätten überstülpen lassen, um es der Mehrheitsmeinung recht zu machen.

So auch bei Sandro Wagner. Nur mussten Sie bei dem sowieso keine Argumente liefern. Das hat er ja im Nachhinein selbst erledigt.

Ob ein gerade erst genesener Neuer besser für das Team ist als ein im Saft stehender ter Stegen, ob ein erfahrener, teamfreundlicher Gomez die Offensive besser ergänzt als der Jokerspezialist Petersen, ob ein feinsinniger Özil für das Spiel im letzten Drittel besser ist als ein durchbrechender Brandt – all diese tausenden von kleinen und großen Entscheidungen können nur Sie als Bundestrainer und Ihr Trainerstab treffen, weil das aus der Ferne sowieso keiner beurteilen kann. Dass Sie das drauf haben, brauchen Sie seit der Weltmeisterschaft 2014 keinem mehr zu beweisen. Und dass diesmal alles überhaupt nicht zusammengepasst hat, ändert daran nichts.

Ich habe schon den Eindruck, dass Sie sehr gut realisieren, was in Ihrem Umfeld so läuft und wie die Stimmung da draußen ist. Sie nehmen die moralischen Strömungen wahr (»Ich kann die Fans ja verstehen …«). Zusätzlich meine ich aber bei Ihnen einige ziemlich coole Moves wahrgenommen zu haben, die die moralischen Spitzen und Angriffe der Öffentlichkeit ins Leere laufen lassen. Sie machen in Ihren Interviews immer ein bisschen rhetorisches Judo. Denn Sie wollen einfach erfolgreich Fußball spielen. Und dafür ist es nun mal nicht entscheidend, was Russland mit der Krim gemacht hat, ob Erdogan Ihre Spieler zu Wahlkampfzwecken missbraucht, ob die FIFA ein Teil des organisierten Verbrechens ist und ob die Kanzlerin zu einem Fototermin ins Trainingslager kommt oder nicht.

Dennoch gehen Sie in der Pressekonferenz auf all diesen Lärm ein – um ihn von der Mannschaft und Ihrer eigentlichen Arbeit fernzuhalten. Das ist kommunikativ natürlich ein ständiger Spagat: Sie müssen einerseits die andauernden, übergriffigen Forderungen aus dem gesellschaftlichen Subsystem Moral ignorieren, um in Ruhe weiterarbeiten zu können. Aber Sie könnten es sich auch mit der Öffentlichkeit verscherzen, wenn Sie diese Forderungen zu brüsk zurückweisen und damit zum Beispiel Journalisten diskreditieren. Dann würden Sie selbst für weitere Störungen Ihrer Arbeit sorgen und ein gelbwürdiges taktisches Foul an sich selbst begehen. Gar nicht so einfach, das alles.

Ihr Job ist Fußball, also Showbusiness, und nicht Politik oder Presse – in gewisser Hinsicht verhalten Sie sich mit dieser eindeutigen Positionierung ketzerisch. Und Sie hören die Messerwetzgeräusche der ideologischen Eiferer, die es einfach nicht schaffen, Sie moralisch festzunageln, durchaus. Da verhält sich der Ilkay Gündogan politisch fragwürdig, ja, aber wenn er für Sie aufs Feld läuft, dann ist er Ihr Spieler. Ohne Wenn und Aber. Und dann zeigen Sie auch dem pfeifenden Publikum mit Ihrer demonstrativen Klatschgeste, dass es im Stadion um Fußball geht und dass Sie es nicht dulden, dass Ihr Spieler ausgepfiffen wird, bevor er überhaupt gespielt hat. Nicht zuletzt dem Spieler selbst haben Sie damit gezeigt, wo Sie stehen. Gut geführt. Hut ab!

Dass Sie sich den politischen Debatten nicht aussetzen, sondern sie in die Schranken verweisen und immer wieder auf das eigentliche Thema Fußball zurückkommen, dass Sie sich darin einfach nicht beirren lassen, das hat mir immer gefallen.

Aber am allerbesten fand ich ja Ihre Begründung für die Fortsetzung Ihrer Arbeit: Sie sagten, Sie hätten vor der WM eine Verlängerung Ihres Vertrages vereinbart, die unabhängig vom Ausgang des Turniers gilt, und daran fühlten Sie sich nun gebunden. Ende der Durchsage.

Mein lieber Scholli. Das hat Stil!

Machen Sie ruhig weiter, ich freue mich darauf, die deutsche Fußballnationalmannschaft demnächst wieder richtig guten Fußball zelebrieren zu sehen.

Ihr ganz nüchterner


 
 

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Diesseits der Vernunft

 


 

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  • Karl-Ludwig Oehler
    12. Juli 2018 at 16:58

    Lieber Lars Vollmer,
    jetzt sitze ich gerade in meinem Büro, trinke auch eine feine Tasse Kaffee, lese ihren Newsletter … und antworte darauf … weil mir ist grad so. 🙂
    In meinem Beruf werde ich häufig nach den Gründen des Ausscheidens der deutschen Kicker gefragt. Die Antwort aus der Ferne zu geben, ist nicht möglich, weil es auch bei einem Turnier viele Einflüsse gibt. Darum lasse ich es.
    Fußball wird immer schneller und komplexer, genauso wie unser heutiges Leben. Selbst Joachim Löw als Betroffener und Verantwortlicher wird sicherlich nur ansatzweise wissen, woran es denn genau gelegen hat.
    Bei Fehlern und Niederlagen gibt es meist zwei Verhaltensweisen der Menschen/Trainer/Führungskräfte/Politiker:
    1) man streitet die Verantwortung ab oder
    2) man übernimmt die Verantwortung und geht.
    Mit dem „Gehen“ folgt man dem Mainstream, macht man es sich und vielen anderen leichter, dient aber nicht der Sache.
    Die 3) Variante wäre die Verantwortung übernehmen, zu bleiben und dann aus den Fehlern zu lernen.

    Genau das macht Joachim Löw und darum spricht mir Ihr Newsletter aus dem Herzen.

    Über dem Ganzen steht ein wichtiges geistiges Prinzip: „Wir können den Erfolg nie erzwingen, wir können ihn ermöglichen!“
    Und wenn wir dies berücksichtigen, dann ist auch der Weg zur heitern Gelassenheit wieder möglich, die wir in der heutigen Zeit mehr bräuchten, egal ob im privaten Bereich, in der Arbeit und auch beim Fußball.
    Vielen Dank für den treffenden Newsletter,
    Karl-Ludwig Oehler

  • Paul Maisberger@as-team.net
    12. Juli 2018 at 19:02

    Gut gebrüllt Löwe Vollmer. Super

  • Tilo Sinner
    13. Juli 2018 at 13:16

    So so so, lieber Herr Dr. Vollmer, dann präferieren Sie nun also doch und gerade bei einem Team die unterste Stufe des Managementstils (nach dem Michigan-Stilkontinuum): „Tell“: „ich entscheide ohne Teams und Mitarbeiter zu konsultieren“? Wo doch auch Stufe 4 (Agree) oder sogar 5 (Advice) möglich wären? Und trauen einer Führungskraft mit der Handlungslogik „Oppurtunist“ oder vielleicht auch „Experte“ (nach Harvard Business Review) die dauerhafte Fähigkeit zu, erfolgreich zu erneuern? Wo doch ein „Stratege“ oder, wenn man den bekommen könnte „Alchemist“ nötig wäre? Aber ja leider, so ist es und so wird es bleiben – die alten Führungskräfte und -stile sind in der Mehrheit.

    • Gisela
      26. September 2018 at 08:24

      Opportunist wird mit zwei „o“ geschrieben und nicht mit zwei „u“!

  • Joachim Heilmann
    15. Juli 2018 at 21:36

    Hallo Herr Vollmer,
    endlich einer der kein Mainstream spricht.
    1. Löw hat´s fachlich drauf, das hat er bewiesen. Kontinuierlich seit 2006. Zumindest kann er es besser als ich.
    2. Er hält sich an Vereinbarungen (Vertrag). Das ist das Committment, das in den Unternehmen gesucht wird.
    3. Löw hat einen Arbeitsvertrag. er schuldet Arbeit nicht Erfolg (siehe BAG).
    4. Wenn er zurückgetreten wäre, wäre er davon gelaufen und wäre vertragsbrüchig geworden. Das nennt der Mainstream dann „Verantwortung übernehmen“. Ich nenne ein solches Verhalten „feige“ und „schäbig“.
    5. Er möchte offenbar aus seinen Fehlern lernen und es das nächste mal besser machen. Das ist doch in unserer Wirtschaft so oft gefordert. Dort nennt man das „Fehlerkultur“. Und ist total trendy. Oder ist das doch nur Marketing?

    Aber in einer öffentlichen Diskussion gegen den Strom zu schwimmen ist kräftezehrend. Dafür wird man (vielleicht) nicht abgetrieben…

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